Reto Flury
Reto Flurys fotografisches Oeuvre ist in wenigen Jahren entstanden, wobei das Konvolut der “Baustellen" seine wesentliche künstlerische Leistung bildet. Einsetzend 1989, stammen die von ihm als gültig erachteten Werke aus den 90er Jahren. Sie werden nun mittels Ausstellung und Publikation erstmals in adäquater Form und exemplarischer Auswahl der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, posthum, denn Reto Flury lebt seit Beginn dieses Jahres nicht mehr. Er hat sich in obsessiver Weise und in aller Breite dem schlichten und zugleich höchst komplexen Topos der Baustelle angenähert, aber letztlich im unermüdlichen experimentellen Umgang mit einer scharfen Selektion von wenigen Fotografien die grösstmögliche Verdichtung suchend. Dabei fand er in der Farbfotokopie mehrheitlich die für ihn überzeugendste technische Umsetzung. So macht es beispielsweise nur die Laserkopie mittels extremer Aufhellung möglich, dass sich eine realistisch-alltägliche Szenerie fast ins Erscheinungshafte entmaterialisiert. Reto Flury wollte seine aufs Subtilste ausgeloteten Abzüge nicht hinter Glas rahmen, denn er suchte die unmittelbar fragmentierte, ja verletzliche Präsenz, gerade auch der koloristischen Valeurs. Unter Ausreizung eines normalerweise gedankenlos und schnell vollzogenen Reproduktionsverfahrens agierte er hier wie ein Maler.
Meist herrscht ein In- und Miteinander staubiger oder nasskalt ausgewaschener Tonalitäten vor. So scheint es, als ob die Zeit über diese omnipräsenten Störzonen des sich sonst reibungslos abwickelnden zivilisatorischen Alltages gestrichen wäre, sie aus der anekdotischen Aktualität entfernt und geradezu ins Bergende der innerweltlichen Realität von Erinnerung oder Hoffnung transferiert hätte. Reto Flury sah denn Baustellen als anonym geschaffene Installationen, als Orte, wo das kollektive Unbewusste ans Tageslicht dringt, der oft verdrängte Nährgrund des Lebens augenfällig wird. Diese Schürfstellen legen den amorphen Gegenpart aller funktionalistischen zivilisatorischen Bestrebungen frei. Sie sind anarchisch offene Zonen, die eine Diskrepanz augenfällig machen zwischen vorläufig-chaotischen Konstellationen von schlundartigen Fundamentgruben, Rohren, Brettern, Schaufeln, Armierungseisen, Maschinen, Baubaracken und einer zu errichtenden oder zu bereinigenden Beständigkeit und industriellen Perfektion, zeigen genereller die Bedingtheit des Apollinischen vom Dionysischen.
Diese konzentrierten Zwischenbereiche, zwar von Menschenhand zeugend, aber fast ausschliesslich in menschenleerer Stille gezeigt, sind ihrer Gefährlichkeit wegen oft abgesperrt. Flury schaut auf sie mit ruhendem, geradezu stillebenhaft komponierendem Blick und schafft mit feingliedriger Geduld und zugleich der Virulenz dieser Zonen nahen Hartnäckigkeit eine stete Ambivalenz, in der aus Schmutz Poesie aufblühen, Formen zweckfrei skulptural und Farben sich von der Gegenstandsbezeichnung lösen können, in der das als apollinisch Bezeichnete eine wesentlichere Dimension erhält als die einer wohlverordneten Pragmatik. Eine dem Verschwinden verpflichtete Stelle erhält die Dauer und die Kraft des Bildes.