
Stars wie Justin Bieber oder Selena Gomez machen es vor: Tattoos mit Motiven von Albrecht Dürer (1471-1528) sind Kult. Die aktuelle Ausstellung Norm sprengen und Mass geben der Graphischen Sammlung ETH Zürich zeigt die Bandbreite von Dürers druckgrafischem Werk und gibt Einblicke in die Tätowierkunst nach seinen Vorlagen.
Dürer wurde schon zu seinen Lebzeiten als Vorbild von anderen kopiert. 1568 berichtet Giorgio Vasari in der zweiten Auflage seiner Künstlerviten von der Begeisterung des Kupferstechers Marcantonio Raimondi (c.1480-1534): «Demnach begann er die Arbeiten Albrecht Dürers zu copiren, studirte die Weise, nach der er seine Striche zog und alle Einzelheiten der gekauften Blätter, die um ihrer Neuheit und Schönheit willen in hohem Rufe standen und von jedermann gesucht waren». Doch nicht nur als Künstler, auch als Geschäftsmann war Dürer ein Ausnahmetalent. Er spezialisierte sich auf reproduzierbare Kunstwerke, perfektionierte den Holzschnitt zu einer eigenständigen Kunstform und feierte damit ebenso wie mit seinen Kupferstichen internationale Erfolge.
Die Graphische Sammlung ETH Zürich besitzt Dürers Originaldrucke in hervorragendem Erhaltungszustand. Das Repertoire reicht von den biblischen Darstellungen der Passion und Apokalypse über mythologische bis hin zu profanen Bildszenen. Beim Rundgang durch die Ausstellung wird deutlich, wie sehr sich die Werke durch technische Finesse, aber auch durch Präzision in der Darstellung der Motive auszeichnen. Dürer hat seinen künstlerischen Blick durch das Studium der Natur und der menschlichen Anatomie geschult. Er verstand es, die Landschaft ins Bild zu integrieren und seine Figuren durch Mimik und Gestik zu beleben sowie Lichteffekte zu inszenieren. Seine Sujets changieren zwischen Wahrgenommenem und innerer Vorstellung. In den anspielungsreichen Details und ihrer komplexen Symbolik zeigt sich zudem das Selbstbewusstsein eines humanistischen und kritischen Denkers. So etwa in den Kupferstichen Adam und Eva (1504) oder Melencolia I (1514), die zu den bekanntesten Werken seines umfangreichen Œuvres zählen. Mit dem Holzschnitt Rhinocerus (1515) reagierte Dürer wiederum auf die grosse Nachfrage nach allem Neuen, das aus Übersee nach Europa gebracht wurde. Dürer hat das Tier nie gesehen und beweist mit seiner Darstellung eine ausserordentliche Vorstellungskraft.
Wie der Titel der Ausstellung betont, ist es Dürer gelungen, nicht nur Normen zu sprengen, sondern auch Massstäbe für das kulturelle Selbstverständnis Europas zu setzen, die bis heute nachwirken. Rund fünfhundert Jahre nach seinem Tod finden sich Dürer-Reproduktionen fast überall, auch auf der Haut. Die Graphische Sammlung ETH Zürich greift diese Form der persönlichen Aneignung Dürers in einem Teil der Ausstellung auf. In den Wandvitrinen im Flur sind Fotografien von Tätowierungen zu sehen, die auf seine Motive der Apokalypse und des Rhinocerus zurückgehen. Dieses Ausstellungsformat wurde erstmals 2024 in grösserem Umfang im Albrecht-Dürer-Haus in Nürnberg gezeigt.
In der Zusammenschau von Druckgrafik und Tattookunst wird die technische Verwandtschaft zwischen dem Gravieren einer Platte und dem Einritzen der Haut deutlich. Es hat sich sogar ein eigener Stil entwickelt, der als «engraving style» versucht, Drucktechniken auf der Haut nachzuahmen. Die in der Ausstellung präsentierten Tattoos zeigen, dass die Bildmotive Dürers von den Tätowierer:innen originalgetreu wiedergegeben oder – je nach Lust und Können – fantasievoll variiert und an die individuellen Körperstellen angepasst wurden. Trotz Reproduktion ist ein Dürer-Motiv als Tätowierung einmalig und wird auf der Haut lebendig, kommentiert der Tätowierer Ant The Elder seine Arbeit.
Bereits in der Frühen Neuzeit spielten Formen der künstlerischen Nachahmung eine zentrale Rolle, wie das eingangs erwähnte Beispiel Raimondis zeigt. Die kunsthistorische Forschung beschäftigt sich vermehrt mit Formen der Aneignung, Reproduktion und Wanderung von Bildern. Dieser Blick auf Dürers druckgrafisches Werk bietet Potenzial, das in der aktuellen Ausstellung trotz des vielversprechenden Titels nicht ausgeschöpft wird. Eine historische Kontextualisierung des Nachlebens seiner Werke hätte sich angeboten. Die doppelte Perspektive auf die Kunst des Bildstechens ermöglicht zwar eine sinnliche und aktuelle Neubetrachtung der Werke Dürers, doch wurde das Thema lediglich am Rande behandelt. So ist die Ausstellung eine verpasste Chance und zugleich eine faszinierende Zeitreise, die handwerkliche Präzision und künstlerische Vision hautnah verbindet.
Norm sprengen und Mass geben, Graphische Sammlung ETH Zürich, Rämistrasse 101, HG E 52, 4. Dezember 2024–9. März 2025