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Reading Rämistrasse #157: Charlotte Melbert zu Marina Abramović im Kunsthaus Zürich

Die erste Begegnung der Besuchenden mit Marina Abramovićs gewaltiger Retrospektive im Kunsthaus Zürich ist unmittelbar und körperlich. Die Besuchenden zwängen sich zwischen zwei nackten Körpern in die Ausstellung. Das Reenactment der Performance Imponderabilia, 1977, bildet den Auftakt der dichten und umfassenden Show. Abramovićs Oeuvre ist durchdrungen von der Konfrontation mit dem Körper, mit der Präsenz ihres Seins und den Grenzen von Schmerz, Ausdauer und Kraft.

Die Ausstellung beginnt mit ihren ikonischen Performances aus den frühen 70er-Jahren. Kompromisslos, intensiv, existenziell und ein bisschen dramatisch. Wand-füllende Foto-Projektionen, Videos und eine Nachbildung des gedeckten Tisches von Rhythm 0, 1974, erinnern an die Situation in der Galerie, in der sich Abramović selbst als «passiv» bezeichnet, um die Besuchenden herauszufordern, mit und gegen sie zu handeln.

Der partizipatorische Aspekt ihrer Arbeit ist facettenreich. Immer wieder aktiviert sie Besuchende und vermischt die Rollen der Performenden und Betrachtenden. Wer schaut und angeschaut wird, verändert sich ständig, wie beispielsweise in der öffentlichkeitswirksam inszenierten Performance The Artist Is Present, 2010, am MoMA in New York. Sie zog hunderttausende Interessierte an, die Zeug:innen ihrer unendlich scheinenden Präsenz wurden. Präsenz bleibt durch ihr Oeuvre hinweg jedoch ein vager Begriff und verortet sich irgendwo zwischen Zeitlosigkeit, Gegenwart, Leere, Energie, Austausch, Verbindung und totaler Isolation. Im Kunsthaus Zürich wandeln die Besuchenden durch einen langen, dunklen Korridor zwischen den projizierten Porträts der Teilnehmenden der Performance auf der einen Seite, und dem unendlich wiederholten Porträt der Künstlerin auf der anderen Seite – eingefroren im Wechselspiel von anstarren und angestarrt werden.

Marina Abramović. Retrospektive Installation view Kunsthaus Zürich, 2024

Image: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, works: © Courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, Pro Litteris, Zürich

Der Fotograf Marco Anelli porträtierte jede Person, die sich Abramović gegenüber setzte, in deren emotionalsten Moment und inszenierte gemeinsam mit dem Regisseur Matthew Akers und der Performerin dramatisch aufgeladenes Dokumentationsmaterial. Betrachtet man dieses Material im Kunsthaus anstelle der Performance selbst, schleicht sich der Eindruck der Distanz und Anonymität einer Massenveranstaltung ein.

In einem abgetrennten Bereich sollen geräuschunterdrückende Kopfhörer und grosse Fensterfronten mit Blick auf den Zürcher Winter als Dekompressionskammer, 2024, fungieren. Wie auch beim Reiszählen am Ende der Ausstellung schlüpfen die Besuchenden hier in die Rolle von Performenden, die redundante Übungen wie Zählen oder Sitzen ausführen. In den Besuchenden soll ein Zustand von «reiner» Präsenz entstehen, ohne dass dafür die Künstlerin selbst gefragt ist. Das Werk wird jedoch ebenso konsumiert wie all die anderen Arbeiten und ist eher ein spielerischer, als meditativer Moment.

Die performative Präsenz der Künstlerin und ihres damaligen Partners Ulay ist der Schlüssel zu Arbeiten wie Nightsea Crossing, 1981-1987, oder Lovers, 1983. Die Retrospektive zeigt dokumentarisches Material dieser Langzeit-Performances, die – ausserhalb des üblichen zeitlichen Rahmens den Performances umspannen – über Tage, Wochen und Monate stattfanden. Das Duo schob die Grenzen von Vergangenheit und Zukunft so weit an den Rand der erlebten Zeit, dass alles Gegenwart wurde. Die Künstler:innen bedienten sich dabei an Konzepten aus tibetischen, Aborigine-Kulturen und Meditationspraxen. Neben der Bewunderung für diese Kulturen reproduzierten sie durch fehlende Kontextualisierung und kritische Distanz einige rassistische und neokoloniale Perspektiven. Besonders Abramović bezeichnet sich selbst gerne als «Brücke zwischen Ost und West». Sie versteht «den Osten» synonym mit Natur und Ursprünglichkeit, an derer und deren Kulturen sie sich bedient, um es dann «dem zivilisierten Westen» zu übermitteln. Die Richtung des Nehmens und Gebens ist einseitig und das Verständnis «östlicher» und «westlicher» Kulturen verklärt und banalisiert. Leider wagt es weder die Abramović-Literatur noch diese Retrospektive, auf solch tief verwurzelte Strukturen und Perspektiven aufmerksam zu machen.

Marina Abramović. Retrospektive installation view Kunsthaus Zürich, 2024

Image: Franca Candrian, Kunsthaus Zürich, works: © Courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024, Pro Litteris, Zürich

Die Besuchenden in einen besonderen Bewusstseinszustand zu versetzen und Präsenz zu etablieren, ist nicht nur zentral in Abramovićs Performances seit den 80ern, sondern auch entscheidendes Element ihrer Objekte. Die Transitory Objects, 1989-1990, sind eine Einladung an die Besuchenden, ihren Körper an die Kristallblöcke zu drücken. Die objekteigene Energie, gespeist aus der Erde, soll hierdurch in und durch den Menschen strömen. Kunst und Abramovićs esoterische Überzeugungen verschmelzen in diesen Arbeiten.

Gibt es einen Aspekt von Abramovićs Oeuvre, der in dieser Retrospektive nicht enthalten ist? Kaum – es ist alles dokumentiert! Diese gewaltige Schau umspannt fast fünf Jahrzehnte ihres beeindruckenden Werks und schafft es, die ikonischen Werke zu zeigen oder darauf zu verweisen und gleichzeitig die Vielfalt Abramovićs zu würdigen. Die Performance ist nach wie vor der wichtigste Teil von Abramovićs Praxis. Diese (und alle anderen) Retrospektiven stellen somit eine entscheidende Frage: Wie kann Kunst, die im Moment ihrer Vollendung verschwindet, (wieder) ausgestellt werden? Können Besuchende Abramovićs Kunst überhaupt begegnen, wenn sie nicht bei der (Erst-) Aufführung dabei waren?

Das Kunsthaus Zürich hat sich dafür entschieden, die Retrospektive nur teilweise mit Kunstwerken wie Objekten und Fotografien und natürlich mit einigen Reenactments zu füllen. Viele der ausgestellten Arbeiten sind jedoch dokumentarischer Natur und verweisen lediglich auf die Kunstwerke oder zitieren deren Rezeption. Das dokumentarische Material rückt die Besuchenden in eine zweite Erfahrungsebene. Von dort betrachten die Besuchenden das Dokumentationsmaterial und durch dieses die Kunst, erhalten jedoch keinen unvermittelten Zugang zu den Performances. Ermöglicht oder hindert die Dokumentation den direkten Zugang zu Abramovićs Kunst? Während sich materialbasierte Kunst in einer Retrospektive leicht ausstellen lässt und ihren Charakter oder gar ihre Authentizität nicht verliert, sollten erneut ausgestellte Performances aus Performenden bestehen, nicht aus Bildschirmen, Projektionen und Beschreibungen. Sicherlich ist ein Reenactment nicht die Performance selbst, sie kommt dieser jedoch ungleich näher, als es ein Video oder eine Fotografie vermag.

Durch die Marina Abramović Retrospektive im Kunsthaus Zürich zu gehen bedeutet, durch das Oeuvre einer der bedeutendsten Künstlerinnen unserer Zeit zu schreiten und ist einen Besuch allemal wert. Ich empfehle Ihnen sehr, sich Zeit für die Reenactments zu nehmen.

Marina Abramović, Retrospektive, Kunsthaus Zürich, Heimplatz, 25. Oktober 2024–16. Februar 2025

Reading Rämistrasse

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