Die Ausstellung ist eine mehrfache Einladung. Dass Debbie Alagen in Zürich in der Galerie Windhager von Kaenel ihre erste Soloshow eröffnen konnte, ist einem Format der HEAD Genève zu verdanken. Seit einigen Jahren lädt die Genfer Kunstschule eine Galerie zur Diplomausstellung der Masterstudierenden ein, um eine Position zu wählen, die in einer Einzelausstellung gezeigt wird. Windhager lud Alagen ein. Und er hat gut gewählt.
Auf der Einladungskarte ist ein Tischgedeck abgebildet. Es ist an invitation by Debbie Alagen zu einem opening dinner. Beim get together gegen 18 Uhr drängen sich auf den knapp 12 m2 des kleinsten, zur Aemtlerstrasse hin orientierten Galerieraums bereits einige Leute. Es ist live music angekündigt. Man wähnt sich in einem Warteraum. An den Wänden schon mal eine Kostprobe Alagens installativen Werks. Einige Stücke hängen an den Wänden, eines wurde unweit der Eingangstüre am Boden platziert und lehnt gegen die Fensterfront. Die Tür zum grossen Raum, wo das eigentliche Mahl stattfindet, das dinner by Linn Henz, ist noch verschlossen.
Im Grunde sind wir vertraut mit solchen Eröffnungsabenden, die von dem sogenannten Begleitprogramm gesäumt werden. Bei Debbie Alagen jedoch mutet keine Szenerie, die sich im Verlaufe des Abends noch ergeben und zeigen wird, als blosses Nebenschauspiel eines Hauptakts an. Die Übergänge von einem Format zu anderen sind bei Alagen fliessend. One reason to come brings many to stay ist der Ausstellungstitel. Es ist aber auch der Titel eines Werks und es ist der Schriftzug, der von ebendiesem Werk prangt. Die in einem hellen Pinkton gehaltenen und auf den dunklen Untergrund angebrachten Buchstaben reihen sich zu einem Satz, der sich wie ein Vers liest. Der erwähnte Untergrund – ein allen Werken in der Ausstellung gemeinsames Element – besteht aus jeweils vier bis acht bemalten Keramikplatten, die sich in einer oder in zwei Reihen zu einem Plateau zusammenfügen. Hinter deren dunkelbraunen Malgrund schimmern teilweise hellere Töne hervor. Von Weitem betrachtet entsteht so der Eindruck eines aufgebrochenen, dunklen Himmels, einer etwas verpixelten Wolkenbewegung, die über einen Screen schimmert, einer Weite und eines Soges, die uns in eine immersive Umgebung eintreten lassen.
Direkt vis à vis der Eingangstür der Galerie hängen wiederum zwei Reihen Keramikplatten, auf welchen jeweils vier kleine Kaffeelöffel mit nach oben gebogenen Haltern befestigt sind, wodurch sie an Kleiderhaken einer Garderobe erinnern. Leave your anger outside 1+2, 2023, scheint einzuladen, den Mantel abzulegen und sich wie zuhause zu fühlen. Die Beziehung, die Alagen zwischen dem Werk und denjenigen, die ihm beiwohnen, aufbaut, ist suggestiv, aber nie aufdringlich. Vielleicht liegt es an den Wortzügen, die beim Lesen als die Stimme einer Person erklingen, die sie uns im Vertrauen mitteilt. Vielleicht stimmen uns diese persönlich scheinenden Offenbarungen empfänglich und offen, die einladenden Aufforderungen wiederum etwas verlegen und vorsichtig. Vielleicht ist es diese bereits beim Betreten der Galerie erzeugte Stimmung, sich gemeinsam mit fremden Menschen im Korridor eines privaten Gemachs zu befinden. Und obwohl in dem Moment noch gar nicht im Raum präsent, ist Alagens Hinzutun spürbar, als ein aus dem Off choreografierter Balanceakt zwischen Privatheit und Vertrautheit, Verstohlenheit und Betretenheit.
Ungefähr eine Stunde später geht dann auch die Türe zum hinteren Galerieraum auf, wo auf die Gäste das angekündigte dinner wartet. Mehrere Tische sind mit selbstgemachten Köstlichkeiten eingedeckt. Sie liegen auf Tischplatten, die Alagen wiederum aus weissen Kacheln gefertigt hat. Tables table, 2023, die nach dem Mahl etwas beansprucht aussehende Tafel, liest sich jedoch nicht wie ein Leftover, das nach einer Performance auf etwas Dagewesenes hinweist. Vielmehr ist sie das ein Anzeichen der Absenz, die den Abend genauso selbstverständlich füllte wie die erlebte Gemeinschaft. Es ist beeindruckend, mit wieviel wenigen subtilen Gesten es Alagen gelingt, einen Dialog herzustellen, der nicht nur als Zwiegespräch unter den Anwesenden stattfindet, sondern auch innerlich in einem selbst erklingt und gedanklich die Präsenz der im Raum Abwesenden evoziert. Die Teilhabe an einer gemeinsam verbrachten Zeit wird beim Vernehmen der prosaischen Versatzstücke immer wieder unterbrochen, was eine Ablenkung und ein Abschwenken in andere Erinnerungsräume bewirkt. Man entdeckt sich zuweilen in einem anderen Film, in dem man aber nicht wäre, befände man sich nicht genau da, wo man gerade ist.
One reason to come brings many to stay lässt sich weder als Werk noch als Ausstellung fassen, sondern wohl am ehesten als ein Gebaren der Beteiligten an einem Ort im Ort, an dem die Zeit sich wie eine Endlosschlaufe einzelner reziproker Sequenzen des Inputs und Outputs, des Gebens und Nehmens, des Aufblitzens und Verschwindens gestaltet. Ein Ort, bei dessen Betreten sich augenblicklich das Bewusstsein einstellt, dass man den Raum und die darin verbrachte Zeit erinnern wird.
Debbie Alagen, One reason to come brings many to stay, Windhager von Kaenel, Aemtlerstrasse 74, 8003 Zürich, 7.–23. Dezember 2023