Die aktuelle Ausstellung Mythomanias im Lathouse zeigt Arbeiten der Gruppe New Territories, deren wesentliche Triebfeder der französische Architekt François Roche ist. Es regnet in Strömen, als ich an der Vernissage ankomme. Vor dem Eingang haben sich bereits eine Handvoll Menschen versammelt, die unter Schirmen und in Regenmäntel eingekleidet dem Wetter trotzen. Ihre Blicke richten sich auf dicke, transparente Plastikstreifen, die von der Decke herunterhängen und worauf eine etwa zweistündige Serie von Kurzfilmen projiziert wird, dem Hauptstück der Ausstellung.
Es folgt ein Film mit der Überschrift «emet», Hebräisch für Wahrheit. Zu sehen sind drei thailändische Kinder, die durch eine dunkle Gasse springen. Doch dann fällt plötzlich die ganze Leinwand mit einem lauten Krachen zu Boden, während aus den Lautsprechern weiterhin das laute Gekreische der Kinder zu hören ist. «B’emet», würde man jetzt auf Hebräisch sagen, «wirklich?» – ja, praktisch die ganze Ausstellung ist gerade zusammengestürzt.
Während die Kurator:innen sich einige verlegene Blicke zuwerfen, entfliehe ich dem strömenden Regen und betrete den spärlich ausgestatteten Innenraum des Lathouse. Auf einem kleinen Bildschirm ist zu sehen, wie ein 3D Drucker seltsame Gebilde konstruiert und auf dem Boden in der Ecke liegen einige weisse Blöcke aufeinander gestapelt. Zum Glück gibt es Sekt.
Als nach einer halben Stunde die Leinwand immer noch zerstreut am Boden liegt, entschliesse ich mich, nach Hause zu gehen und mir die Filme in meiner warmen Stube anzuschauen (alle Arbeiten von New Territories sind auf ihrer Webseite einsehbar).
Müsste man die visuelle Sprache dieser Filme auf den Punkt bringen, dann würde ich das folgendermassen versuchen: Apichatpong Weerasethakuls einfühlsamer Surrealismus, der die Grenzen zwischen Traum und Realität verwischt und die Vergänglichkeit menschlichen Lebens in eine poetisch leichte Bildsprache einkleidet, trifft auf David Cronenbergs Bodyhorror, der mit Ästhetik des Schleims und Ekels operiert.
Der Ausstellung hätte es vermutlich geholfen, den Innenraum des Lathouse zumindest mit einigen wenigen Anhaltspunkten auf die architektonische Praxis von New Territories auszustatten. Denn auch das Medium des Filmes dient New Territories als Experimentierfeld, um Grenzen zwischen Menschen, Tieren, gebauter Umwelt und natürlicher Umgebung stets neu auszuloten. Umschreiben lässt sich diese Praxis als Versuch, die totalisierende Stimme des Herren durch ein Rauschen des Multiplen zu ersetzen und so die Architektur von ihrem patriarchalen Joch zu befreien. Nicht Stärke, sondern Fragilität und Vulnerabilität sind die wesentlichen Vektoren einer solchen Architektur, die Zwischenräume, Ambivalenzen und Unsicherheiten stets zu applizieren versucht. In der Arbeit things which necrose aus dem Jahre 2009 baute New Territories beispielsweise einen Pavillon aus Material, das sich durch den Kontakt mit Raumfeuchtigkeit langsam bis zum totalen Verschwinden verflüchtigte.
Jene Geste der Verflüchtigung scheint Roche auch auf sich selbst übertragen zu haben, der seit der Gründung von New Territories im Jahre 1993 ein Spiel mit Identitäten betreibt. Portraits von Roche sucht man nämlich im Internet vergeblich. Stattdessen landet man bei «R/Sie», einem androgynen transgender Avatar, deren/dessen Sekretär Roche sei.
Um 2008, vielleicht aufgrund der Folgen der Finanzkrise, der erdrückenden Banalität der französischen Bourgeoisie und vermutlich auch auf der Flucht vor sich selbst, landet Roche in Bangkok, von wo aus er in den nächsten zehn Jahren sein Studio mit einer Handvoll Angestellter und Praktikant:innen betreibt. In der Folge entstanden auch ein Grossteil seiner Kurzfilme, die aktuell im Lathouse zu sehen sind.
Wie sich Gebäude, Maschine und Tiere zu einem soziotechnischen Gefüge in der Architektur von New Territories verbinden, illustriert etwa der Film hybrid muscle. Er zeigt Büffel, die vor einem aus filigranen Stäben und mit Tüchern behangenen, tunnelartigen Gebäude dahertrotten. In dessen Mitte steht ein stromproduzierender Apparat, der von der Arbeit der Büffel angetrieben wird, in dem diese ein zwei Tonnen schweres Gegengewicht in die Höhe hieven, das danach wieder herunterfällt. Die ganze Szene ist eingebettet in die ländliche Idylle der Chiang Mai Region und zum Abschluss sehen wir, vom weichen Gesang Thom Yorkes begleitet, das Gebäude des Nachts in warmes Licht getaucht.
Andere Filme sind im buchstäblichen Sinne weniger leicht verdaulich. Ein junger Mann sitzt an einem Tisch und isst einen rohen Vogel. Das Brechen der Knochen ist deutlich zu hören und Blut tropft von seinem mit Federn befleckten Mund. Überhaupt bricht Roche in seinen Filmen mit vielen Tabus. Wäre die Leinwand anfangs nicht herunter gekracht, so hätten wir im eingangs genannten Film emet beispielsweise gesehen, wie jene kreischenden Kinder einen Menschen mit Behinderung, der in einem skelettartigen Käfig eingeschlossen zu sein scheint, mit Wasserspritzern belästigen.
Möchte Roche mit solchen Bildern uns unseren schlechten Umgang mit Menschen mit einer Behinderung vor Augen führen? Oder geht es im Spezifischen um den Status von Menschen mit Behinderung in der thailändischen Kultur? Dient der Käfig auch als Schutz vor den bösen Übergriffen der Kinder? An solche Fragen knüpfen sich auch eine Reihe ethischer Überlegungen, die im Lob des Tabubruchs unterzugehen drohen. Das wäre zum einen die Frage nach der würdevollen Zusammenarbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen und deren teilweise eingeschränkter Fähigkeit, ihre Bedürfnisse und Grenzen klar zu artikulieren, zum anderen die Frage, wie wir als Zuschauende auf solche Bilder adäquat reagieren können und sollten. Wenn man sich künstlerisch mit solchen Themen beschäftigt, dann müssen solche Problematiken meiner Meinung nach explizit mitgedacht werden.
Ähnliche Fragen liessen sich auch allgemein zu Kunstpraktiken, die sich dem Gestus der Transgression unterwerfen, stellen. Wo gibt es Grenzen der Transgression? Und schliesslich dies: Für François Roche mag das ewige Nomadentum ein Spiel sein, vielleicht auch Ausdruck eines konkreten Universalismus, doch für viele andere geflüchtete auf dieser Erde ist es Ursache grossen Leids. In anderen Worten: Die Kunst der Transgression ist auch ein Privileg.
SHIFTING_DRIFTING/mythomaniaS_S/he_New-Territories_2012-2022, 26. Oktober–8. November 2023, Lathouse, Neue Hard 12, Zentralwäscherei Zürich
Screenings am 4. und 8. November um 20 Uhr