Es gibt Kunstwerke, denen ihre Entstehungszeit eingeschrieben ist. Man begegnet ihnen heute und erhält eine Ahnung davon, wie sich das Leben im Jahr 1920 oder 1970 angefühlt haben muss. Ihre Relevanz wird aber manchmal erst sichtbar, nachdem eine gewisse Dauer verstrichen ist. Vielleicht liegt es in der Natur der Dinge, dass sich die Themen und Motive einer Zeit erst mit Abstand in den Fokus rücken lassen. Andere Werke sind im Moment ihrer Entstehung grossartig. Diese Werke kommentieren aktuelle Geschehnisse, werden diskutiert und bestimmen Diskurse mit. Nach einigen Jahren aber wirken diese Werke zum Teil verblasst und aus der Zeit gefallen. Man tut sich schwer, nachzuvollziehen, wie sie seinerzeit solche Furore auslösen konnten.
Die jüngsten plastischen Werke, die Berlinde De Bruyckere geschaffen hat, allen voran die Arbeiten aus der Serie It Almost seemed like a Lily (2021-2023) leisten weder das eine noch das andere. Sie sind der Zeit entrückt. Die Assemblagen, die in der Materialwahl von Wachs, Tierhaut, Textilien, Holz, Papier und Eisen bis hin zu Polyurethan und Epoxy reichen, würden sich rein visuell problemlos einfügen in eine Ausstellung des frühen 20. Jahrhunderts, könnten aber ebenfalls Erzeugnisse der noch ungewissen Zukunft sein.
Ich habe in letzter Zeit vermehrt darüber nachgedacht, welche Kunst wir heute verdient haben. Überkommt mich der Weltschmerz, so bin ich geneigt, dissoziative Kunst als gerechte Bestrafung für unseren nachlässigen Umgang mit dem Planeten zu betrachten. Solange wir uns nicht bessern, haben wir keine Schönheit und Harmonie mehr verdient. Protestantischer Arbeitseifer trifft österreichische Grantigkeit.
Die Arbeiten von Berlinde De Bruyckere entziehen sich dieser Doktrin der Moral. Sie existieren in einem Equilibrium, in dem Verfall und Leben im Gleichgewicht stehen. Hier wird kein Urteil gefällt.
It almost seems like a lily V, 2018 (2018) zeigt sich als an der Wand hängende, skulpturale Schaubox mit den ungefähren Massen von 2 auf 1.5 Metern. Vier grobe Holzbretter, davon eine mit abblätterndem weissen Lack, rahmen eine Fläche, auf deren Untergrund eine Landkarte montiert ist. Darauf breitet sich links eine gesteppte Decke mit einem rautenförmigen Blumenmuster in verblichenen Rottönen aus. Zentral im Bild ist eine Tierhaut aufgefächert. Das Grau der teilweise gegerbten Haut greift die Farbe des Futters auf, welches an manchen Stellen aus der Blumendecke hervortritt. Rechts gliedert verknorrtes Holz das skulpturale Bild in der Vertikalen. Die Oberfläche der Wurzel zeigt Markierungen durch Holzwürmer. Ein Wurzelglied rechts wirkt wie ein fleischiger Knochen, dabei ist es eine blassrote Wachsschicht. Stofffetzen und umwickelte Schnüre, die an Nägeln der oberen Bildkante hängen, halten das Ensemble augenscheinlich zusammen.
In einem Video, das die Galerie Hauser & Wirth anlässlich der Ausstellung mit Berlinde De Bruyckere produzieren liess, erklärt die Künstlerin, dass sie mit dieser Serie auf spätmittelalterliche Andachtskästen (Horti conclusi) Bezug nimmt. Nonnen beteten oder meditierten vor diesen Altaraufsätzen, die im geöffneten Zustand in Kleinstarbeit gefertigte paradiesische Gärten zeigten. Der Andachtskasten ist bei De Bruyckere der Rahmen; darin die aufgefächerte Tierhaut als Blüte, mehr animalisch als vegetal. Sie habe, so De Bruyckere, dieses Gefühl der Überwältigung beim Anblick der mit Objekten gefüllten Schränke in ihre eigene Arbeit übersetzen wollen. Dass dieser Transfer an Emotionen geklappt hat, zeigt ein Blick in mein Notizbuch. «I find this work comforting and unsettling simultaneously,» schreibe ich, und dann: «I feel like if I look at these pieces long enough, I might understand the meaning of life.»
Ich lese die Sätze Tage später und hinterfrage meine Zurechnungsfähigkeit. Wie schafft es ein Kunstwerk, solche Emotionen auszulösen?
Es gibt in der Kunstbetrachtung Momente, in denen man sich sicher ist, dass man gerade etwas Grossartiges vor sich hat. Es fühlt sich dann manchmal ein wenig an, als würde einem jemand mit voller Kraft in den Bauch boxen. Einen Augenblick lang vergisst man, was gerade noch relevant war und muss erstmal Luft schnappen. Man verliert die Orientierung und hört das eigene Blut rauschen. Das klingt jetzt vielleicht wie ein Gefühl, dem man sich nicht freiwillig aussetzen will. Wer es aber erleben möchte, der kann es noch bis 13. Mai in der Ausstellung von Berlinde De Bruyckere tun.
Berlinde De Bruyckere, A simple prophecy, Hauser & Wirth, Limmatstrasse 270, 26 January - 13 May 2023