DE/EN

Reading Rämistrasse #96: Hella Wiedmer-Newman zu Anne Frank in der Schweiz im Landesmuseum Zürich

Keine Ausstellung ist frei von Ideologien. Vor allem Ausstellungen, die sich mit besonders politisch aufgeladenen Themen befassen, haben die Tendenz, diese Themen zu einem bestimmten Zweck zu instrumentalisieren. Im Fall der Ausstellung “Anne Frank in der Schweiz” im Zürcher Landesmuseum scheint dieser Zweck zu sein, die Besucher und Besucherinnen für die Möglichkeit der Errichtung eines nationalen Holocaustmahnmals der Schweiz, über das auf politischer Ebene gerade diskutiert wird, zu sensibilisieren. Die Ausstellung erzählt die Geschichte der Beziehung der Familie Frank zur Schweiz durch die Schwester Otto Franks, Leni Elias-Frank, die mit ihrer Familie 1929 nach Basel auswanderte und da eine Filiale der Geliermittelfirma Opekta aufbaute. Der Motor für diese Geschichte ist aber meines Erachtens die Formfindung einer neuen Schweizer Erinnerungskultur des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust.

Blick in die Ausstellung

© Schweizerisches Nationalmuseum

So sollte es auch nicht erstaunlich sein, dass die Ausstellung etwas chaotisch daherkommt. Sie muss das Publikum schließlich nicht nur über die Geschichte der Familie Frank und deren Verbindung zur Schweiz aufklären, sondern auch grundlegende Tatsachen über die Machtübernahme Hitlers und der NSDAP in Deutschland, sowie deren systematische Hetzjagden vermitteln. Und nicht zuletzt muss die Beziehung der Schweiz zum Geschehen in Deutschland und anderenorts erläutert werden. In diesem Kontext knüpft die Ausstellung an Einsichten aus dem Bergier Bericht der neunziger Jahre an. So kann man etwa lesen: «Mit Kriegsbeginn schliesst die Schweiz ihre Grenzen… etwa 25 000 Jüdinnen und Juden an ihren Grenzen [wurden] abgewiesen… Sie trägt eine Mitschuld an deren Schicksal».

Der letzte Raum der Ausstellung ist wohl der wichtigste. Darin wird eine Art Metageschichte erzählt, über den Anne Frank Fonds, den Otto Frank 1963 in Basel gründete, über die Publikationsgeschichte des Tagebuchs der Anne Frank, sowie über die andauernde kulturelle Bedeutung der Anne-Frank-Geschichte. Zusätzlich beinhaltet er einen Exkurs über die Erinnerungsgeschichte des Holocaust, von der populären amerikanischen Fernsehserie Holocaust von 1978, zu bedeutenden Mahnmalen in Europa, von Piotr Lewitzki und Kazimierz Lataks Stuhlmahnmal im Krakauer Ghetto und Peter Eisenmans Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin bis hin zu Gunter Demnigs Stolpersteinen, die allmählich auch in der Schweiz Fuss fassen. Die Ausstellung stellt sich dadurch auch der Frage was geschieht wenn die letzten Zeitzeug:innen sterben und die Erinnerung an den Holocaust von persönlichen Erfahrungen zu dokumentierten Erfahrungen in Filmen und Videoaufzeichnungen, Denkmälern und Museen, Archiven, Gedenkstätten und Bildungsorten mutieren. «Um den Appell ‹nie wieder› auch in Zukunft nachhaltig zu vermitteln, braucht es vermehrt das Engagement der Nachgeborenen» heisst es auf einem Schild neben dem Ausgang, und daneben «Eine kleine Zahl von Denkmälern in der Schweiz erinnert an die Opfer des Holocaust. Keines reflektiert die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.» Doch das soll sich durch ein neues Denkmal ändern.

Erstausgabe Het Achterhuis
​Het Achterhuis, «Das Hinterhaus», ein von Anne Frank selbst gewählter Titel

© Schweizerisches Nationalmuseum

Der Bezug der Familie Frank zur Schweiz ist am Ende nicht so bedeutungsvoll, wie ich es anfänglich erwartet hatte. Die Geschichte selber beinhaltet eine gewisse Spannung da sie aus Momenten besteht, in denen Anne und ihre Familie ihrem Schicksal hätten entkommen können, als sie z.B. Frankfurt verliessen und in die Niederlande, statt in die Schweiz ausreisten, oder als ihnen ein Visum in die Schweiz verwehrt wurde, da sie es zu spät beantragten. Aber in dieser Hinsicht ähnelt sie dem Narrativ von hunderttausenden Menschen, die den Holocaust nicht überlebt haben. Die Geschichte der Familie Frank in der Schweiz ist genau deshalb wertvoll, weil es abertausende von ähnlichen Geschichten von anderen Familien gibt. Die Kuratorin, Rebecca Sanders, hat sich die wohl international bekannteste Familie in Bezug zum Holocaust als Trägerin ihrer Botschaft ausgesucht, und dabei ein interessantes Stück Kultur- und Industriegeschichte aufgearbeitet. Es gibt auch hie und da weniger gelungene Aspekte in der Ausstellung: Im dritten Raum stört die performative Kitsch-Didaktik mit Animationen von Anne Franks Tagebuch und einem unergründlich prominent platzierten Esstisch, auf den wiederum animiertes Gedeck projiziert wird – wenn diese Elemente für Kinder gemeint sind, dann werden hier nicht besonders graphikaffine Kinder angesprochen – und der ‘KZ-Korridor’ zeugt mit seiner Inhaftierten-Uniform etwas von Holocaust Fetisch. Doch diese lenken meiner Meinung nach wenig vom Ziel der Ausstellung ab. Denn ich sehe die Anne-Frank-Ausstellung als visuelles, politisches Argument für eine umfassende Erinnerungsbewältigung und eine klare Stellungnahme der Schweiz, sowohl auf politischer, wie auch auf kultureller Ebene. Dies geht im weitesten Sinn auch mit einer Auseinandersetzung mit unserer Rolle in jeglichen Kolonial-Projekten einher, ein Thema, welches das Landesmuseum demnächst auch behandeln wird.

Die Anne-Frank-Ausstellung im Landesmuseum ist ein wertvoller Anhaltspunkt. Nicht unbedingt wegen der Geschichte der Familie Frank in der Schweiz, sondern weil sie etwas Wichtiges über unseren zeitgenössischen Moment in der Schweizer Erinnerungsgeschichte und auch in unserer Politik ganz allgemein aussagt. Der umstrittene Begriff der «kooperativen Neutralität» in Bezug auf den Ukraine-Krieg stellt unser nationales Narrativ in Frage und fordert dazu auf, vieles neu zu denken. Es ist also zu begrüssen, dass die Ausstellung die Frage eines Schweizer Holocaustmahnmals aufwirft und dazu Stellung nimmt. Solche Positionierungen zentraler Schweizer Kulturinstitutionen werden diese wichtige Debatte sicherlich fördern.

Reading Rämistrasse

If art criticism is losing ground, we must act. That’s why we created space for criticism – Reading Rämistrasse – on the Kunsthalle Zürich website and publish reviews of current exhibitions in Zürich. What is published here does not represent the opinion of the Kunsthalle Zürich. Because criticism has to be independent.

Feedback or questions? Do you want to participate? Email us