Vor einigen Wochen wurde ich auf eine Gruppe junger Ukrainer:innen aufmerksam, die in verschiedenen Lokalen in Zürich zeitgenössische ukrainische Kriegsfilme ausstrahlen und im Plenum diskutieren. Lilit Hakopyan, eine Architektin aus Kyiv, die im April als Geflüchtete in die Schweiz kam, hat das Projekt als Art politischer Geste aufgezogen: «Ich mache mir grosse Sorgen, dass der Krieg in Vergessenheit gerät», sagt sie. Die Filme sollen über den Krieg, der bereits am 20. Februar 2014 mit der Annexion der Krim begann, und am 24. Februar 2022 mit dem Angriff auf die Hauptstadt Kyiv eine weitere Stufe der Eskalation erfuhr, aufklären und zur Diskussion anregen. In den Kriegsfilmen, die im Rahmen von 2402_fm gezeigt werden, gibt es weder Helden noch Schurken à la Hollywood. Vielmehr sind es Filme, die sich der Charakteristika verschiedener Genres bedienen und sie durchmischen. Sie kommen als Dramen, Dokumentarfilme, Komödien, Horrorfilme, oder als Hybridformen daher und widerspiegeln so die Unerklärlichkeit und Surrealität eines Kriegs, der noch andauert.
Im Rahmen von 2402_fm kamen am 11. und 18. Juni dieses Jahr die Filme Atlantis (2019) von Valentyn Vasyanovych und The Earth is Blue as an Orange (2020) von Irina Tsilyk zur Aufführung. Beim ersten handelte es sich um einen Spielfilm, der mit wahrheitsgetreuen Elementen spielt (zB haben alle Schauspieler:innen im Film selbst Erfahrung in den Berufen, die sie darstellen). Der zweite ist ein intimer, etwas verspielter Dokumentarfilm. Beide demonstrieren zugleich die Banalität der Bürokratie, die Kriege begleitet, sowie die Kreativität, die den Bewohnern von Kriegsgebieten das Überleben ermöglicht. Überdies spielen beide mit den Erwartungen der Zuschauer und mit narrativen Formen. In Atlantis bewegt sich die Kamera kaum, währenddem Personen vor ihr auf und abgehen, um Knochen und andere Überresten aus einer Grube zu exhumieren um sie anschliessend in einem forensischen Labor akribisch zu untersuchen. Sachlich und ausgiebig unterhalten sich zwei Charaktere über die Wasserknappheit, mit der die Region als Folge des Krieges zu kämpfen hat, und darüber, dass man eine andere Region wegen giftigen Niederschlags evakuieren müsse. Diese tableaux vivants kommunizieren den langsamen Prozess der Inventur des Schreckens, und antizipieren somit die ersten mühseligen Schritte der Übergangsjustiz. Oft ist Atlantis aber auch poetisch und visuell ansprechend: Ein Soldat badet in einer riesigen Schaufel mitten in der Wüste; derselbe Soldat trinkt später mit seiner neuen Liebhaberin gemeinsam einen Tee und redet über seine Kindheit, während dem das Bild plötzlich infrarot wird. In dieser Serie von Vignetten, in der die Figuren sich träge fortbewegen, nutzt Vasyanovych Jacques Rancières Konzept der «Aufteilung des Sinnlichen» («le partage du sensible»), um uns an eine neue Wahrnehmung des Krieges heranzuführen und uns vielleicht sogar zum politischen Handeln zu bewegen. Obwohl wir es bei Atlantis mit einem futuristischen Film zu tun haben (er findet im Jahre 2025 statt, das Jahr in dem Vasyanovych mit dem Ende des Krieges rechnet) macht er keine grossen Vorhersagen darüber, wie sehr sich die Welt verändert haben wird. Die üblichen Zeichen einer dystopischen post-Konflikt-Landschaft sind nur begrenzt vorhanden; wir können uns also in keine unrealistische Zukunftsvision flüchten. Die Zeit nach dem Krieg, scheint Vasyanovych zu suggerieren, gleicht der Zeit vor und während des Krieges, denn Frieden wird nie wirklich herrschen.
Im Gegensatz dazu portraitiert der Dokumentarfilm The Earth is Blue as an Orange in einer hoch komplexen narrativen Struktur das Schicksal einer Familie, die die frühen Kriegsjahre in einem Dorf im Donbass erlebt. Myroslava, die älteste Tochter von Anna, einer alleinerziehenden Mutter, die mit ihrer Mutter und ihren drei Kindern in einem einstöckigen Haus wohnt, möchte unbedingt Filmemacherin werden und die ganze Familie hilft ihr dabei, einen Film über das Leben während des Krieges zu drehen. Wir lernen die Familie kennen, indem sich jedes Mitglied frontal vor der Kamera vorstellt. Ein Bombenanschlag in der Ferne unterbricht das Filmen und alle flüchten aus dem Haus. Gemeinsam beschimpfen die Frauen der Nachbarschaft ihre Angreifer und sind unbeeindruckt von den Abwehr-Soldaten, die impotent vor dem nächsten Angriff warnen. In einer anderen Szene fordern die Frauen eine Gruppe Soldaten lautstark aber höflich auf, ihnen als Statisten zu dienen. Es entfaltet sich eine Realität, in der Frauen diejenigen sind, die ihre Umwelt dokumentieren und zugleich kreieren, währenddem die Männer an der Front sind. Die anti-chronologische Dokumentation des Filmdrehs der Familie – eine Mischung aus Interviews und langen Aufnahmen, in denen mehrere Kameras sich gegenseitig filmen – wird durch den konventionellen Erzählstil von Myroslavas Entwicklung gefestigt. Wir erleben wie sie sich von einem frühreifen hochintelligenten Teenager, bis zur Aufnahme in die Filmschule in Kyiv entwickelt und sehen sie schliesslich bei ihrer Heimkehr über die Winterferien, wo sie den Film fertig dreht und anschliessend in ihrem Dorf zeigt. Eine Schlüsselszene zeigt wie die Familie den Anfang ihres Filmes diskutiert: Sollte die Kamera erst panoramisch über das Dorf schweifen, um seine Kraft und diejenige seiner Einwohner:innen auszudrücken, oder lieber direkt den Bombenangriff zeigen, der für Drama sorgen würde? Diese Diskussion über Film als Erzählform, die sich auf einer Metaebene abspielt, ist wichtig, denn sie sagt etwas aus über Kriegsfilme als Schockinstrumente, die selten die materiellen Gegebenheiten und Subtilitäten von Krieg wiedergeben und Überlebende als reine Opfer ohne jegliche Handlungsfähigkeiten darstellen. Am Ende bleibt uns die Intimität von Myroslavas Film in seiner Totalität verwehrt. Doch das Filmemachen an sich wird in The Earth is Blue as an Orange zum radikalen Akt des Widerstands.
Vermehrt wird die Gruppe 2402_fm nebst Kriegsfilmen auch andere Dokus, Spielfilme und aufgezeichnete Opern und Theaterstücke aus dem ukrainischen postsowjetischen Kanon zeigen. Die Gruppe versteht dies als politische Handlung, denn der Völkermord beabsichtigt schliesslich auch die weitgehende Zerstörung von Kunst, Tradition und kultureller Identität.
Der nächste Film ist eine Aufzeichnung der Oper Iyov von Roman Grygoriv und Illia Razumeiko und wird am 27.07 in der Roten Fabrik samt Einführung von Komponist Andrii Koshman zu sehen sein. Das weitere Programm ist über Instagram erhältlich (@2402_fm) oder direkt von Lilit Hakopyan (lilo.hakopyan@gmail.com). Die Vorführungen sind gratis; Spenden für Freiwilligenarbeit und Fonds, sowie hospitallers.life, sind willkommen.