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Reading Rämistrasse #91: Damian Christinger zu ektor garcia beim Cabaret Voltaire

Einst träumte Zhuangzi er wäre ein Schmetterling, fliegend, frei und glücklich. Er wusste nicht, dass er Zhuangzi ist. Plötzlich wachte er auf und fand sich unzweifelhaft und solide als Zhuangzi wieder. Allerdings war er sich dann nicht mehr sicher, ob er Zhuangzi sei, der geträumt hatte ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling, der träumte Zhuangzi zu sein.

In dieser paraphrasierten Passage aus einem der Grundlagentexte des Daoismus (mit dem Titel Zhuangzi) zeigt sich die im steten Wandel begriffene Welt von unterschiedlichen Standpunkten; im Dao gibt es keine singuläre Perspektive – zumindest keine in der Welt der Dinge. Es gibt keinen festen Grund, von dem aus sich Gewissheit erreichen liesse. Was Zhuangzi im 4. Jh. lehrte, war jedoch kein relativierender Perspektivismus, sondern die Möglichkeit, dass wir verschiedene Perspektiven vorübergehend einnehmen können, ohne an sie gebunden zu sein. Im Moment des Erwachens aber, tritt eine kleine Störung des stetigen Wandels zu Tage.

Funktioniert so auch die kulturelle Erinnerung im Raum der Gegenwart?

Wie verhält sie sich in Bezug auf eine zeitgenössische, globale Kunstpraxis? Wie steht die künstlerische Heuristik eines kontinuierlichen Grenzgängers wie ektor garcia (*1985) dazu? garcia wurde im zeitgenössischen Amalgam globaler Einflüsse des heutigen Kaliforniens geboren, ausgebildet in den diskursiven Schmieden des School of the Art Institute of Chicago und des MFA Programms der Columbia University in New York, zog es ihn dann nach Mexico D.F., von wo aus er seine nomadische Praxis als Künstler betreibt. Für ihn durchdringen sich kulturelle Räume in einer Erfahrung, in der sich Gesehenes, Erlebtes und Erarbeitetes vermengen. Die Wahrnehmung von kulturellen Zeichen einerseits, die handwerkliche Aneignung verschiedener Räume anderseits, sind zentrale Elemente, die seine Kunst prägen. Die Gegenstände der Gegenwart sind genauso Wach- wie Trauminhalte und deshalb durchdrungen von Zeichen und mythischen Elementen. Das Ineinander-Umschlagen zweier Gegensätze, im verwendeten Material beispielsweise, verlangt nach einer poetischen Dialektik, die im brutalistischen Gewölbekeller des wiedereröffneten Cabaret Voltaire raumgreifend Ausdruck findet.

ektor garcia, nudos de tiempo, Cabaret Voltaire, 2022

Photo: CE

Die Figur des Schmetterlings findet sich hier in verschiedenen Emanationen wieder. Als silberschimmernde Plakette auf braunem, netzartigem Grund, als kleine Häkelarbeit in einem Nest auf Garn ruhend, als mit Nägeln gespickte Kraftfigur aus gewickeltem Kupferdraht auf schwarzem Filz. Xochiquetzal, die von den Azteken als weibliche Gestalt mit menschlichem Gesicht und Armen, und dem Körper und den Flügeln eines Schmetterlings dargestellt wurde, galt als Göttin des Glücks, der Blumen und der häuslichen Arbeit, des Webens, Knüpfens und der Herstellung von Schmuck und Kleidung. Ihr scheint garcia zu huldigen, wenn er in geduldiger Handarbeit an seinen plastischen Werken knüpft, häkelt, strickt und modelliert. «Kunsthandwerkliche Objektlandschaften» nennen das die Kurator:innen Salome Hohl und Fabian Flückiger; die skulpturalen Setzungen könnten jederzeit weiterverarbeitet werden.

ektor garcia, der in Anlehnung an bell hooks seinen Namen auch immer klein schreibt, nennt die Ausstellung nudos de tiempo, Knoten der Zeit, und beschreibt damit gleichermassen einen literarischen Zugang, wie ihn zum Beispiel Juan Barja als Essayist und Poet vorschlägt. Das Temporale ist bei den hängenden Plastiken nicht nur in der Fertigung zu finden, die unzähligen Schnittstellen und Internodien laden in ihrer dialektischen und lyrisch-materiellen Aufladung geradezu dazu ein, sich die Objekte als mnemotische Maschinen des Zeitlichen vorzustellen. Nur: welche Art von Gedächtnis evoziert garcia damit? Philomela, Schwester von Procne, Opfer männlicher Gewalt, zungenlos, erzählt als erste ihre Geschichte in einem gewobenen Stoff und kommt so zu ihrer Rache. Dieser antike Faden ist kein singulärer Strang, sondern in die Tradition der modernen Textilkunst im Westen und in Lateinamerika eingeflochten. Gunta Stölzl und Anni Albers, Mrinalini Mukherjee, Lenore Tawney, Faith Ringgold, Magdalena Abakanowicz, Rosie Lee Tompkins, Marta Minujín, Lygia Pape, Zilia Sánchez oder Mónica Mayer sind die Internodien eines Gewebes, das die Arbeiten von garcia trägt. Kunst ist in dieser Reihung immer auch eine Form des poetischen Widerstandes, feiert die Möglichkeiten der Wandlung, beruft sich auf Xochiquetzal und Zhuangzi.

ektor garcia, nudos de tiempo, Cabaret Voltaire, 2022

Photo: CE

Die globale Werkstatt, als die ektor garcia die Zonen seiner Reisen zu verstehen scheint, ist somit ein Labor, in dem Eros in Ethos transformiert werden kann. Der Künstler ist in dieser Lesart «Handwerker» im Sinne von Richard Sennet, der zu den Prozessen in der Werkstatt meint, dass im besten Fall alles harmonisch zusammenkommt: Rituale und Tradition, die Hingabe der Einzelnen an ihrem Werkbereich und das gemeinsame Erarbeiten neuer Formen der Herstellung im Dialog. (1)

(1) Richard Sennett: Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Berlin, 2012. Und Richard Sennett: Handwerk. Berlin, 2008.

ektor garcia, nudos de tiempo, Cabaret Voltaire, Spiegelgasse 1, 8001 Zürich, 20. Mai – 25. September 2022

Reading Rämistrasse

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