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Reading Rämistrasse #84: Aglaia Brändli zu Miriam Rutherfoord und Joke Schmidt in der Kunsthalle Winterthur

Das Fenster ist integraler Bestandteil der meisten architektonischen Gebilde. Es scheint ein generelles Bedürfnis des Menschen zu sein, von einem Innen in ein Aussen zu schauen. Das Fenster stellt diese Verbindung her. Joke Schmidt und Miriam Rutherfoord integrieren das Fenster (in Form einer Leinwand oder in Form von Bildschirmen) als eigenständiges Objekt in den Ausstellungsraum – in Räume, die meist keine Fenster haben. Zumindest nehme ich ihre Arbeiten überwiegend als Fenster wahr. Auch in der Kunsthalle Winterthur begegnet mir ein kolossales Fenster. Ähnlich einem alten amerikanischen Kino mit Stuck an der Decke ragt die Leinwand im abgedunkelten Raum vom Boden hoch und stellt sich vor den Durchgang, der durch die Türen von hinten Licht eintreten lässt. Auf sie projiziert ist ein Video. Die Aufnahmen zeigen – wie könnte es anders sein – Ausschnitte einer Aussicht. Die Kamera steht auf der Schwelle eines Innenraums in einen Aussenraum und beobachtet. Sie beobachtet aus dem Schutz des Privaten einen öffentlichen Raum, in den ich jetzt durch ein übergrosses 16:9 Fenster hineinschaue. Er hat mit Winterthur wenig zu tun, ich gebe mich ihm in der Kunsthalle dennoch ohne weiteres hin. Denn der Bildausschnitt ist von den zwei Künstlerinnen in jeder Sequenz so präzise gewählt, dass ich mich nicht abwenden kann. Das Bild zeigt mir Vertrautes. Die Umgebung rund um den Zürcher Hardplatz. Es ist, so erfahre ich aus dem Ausstellungstext, die Sicht aus dem Fenster des Ateliers der beiden Künstlerinnen.

From Our Window, Miriam Rutherfoord and Joke Schmidt, 2022, still

Courtesy the artists

Das Alltägliche. Zufällige Bewegungsabläufe, die an den unterschiedlichen Drehtagen von der Kamera erfasst wurden. Menschen, die über den Platz hasten, Bauarbeiten verrichten, gleichgültig und ungeduldig auf das grüne Signal der Ampel warten oder mit dem Fahrrad die Brücke überqueren. Ins Auge fallen mir vor allem zufällige Anordnungen von Lastwagen, die wirken, als hätten sie sich genau für diese Aufnahmen hintereinander platziert, sich abgesprochen. Bagger, die den Boden mit einer Art von Zärtlichkeit aufreissen, dass ich mich schon fast schäme, sie in dieser Intimität zu beobachten. Ich könnte ihnen stundenlang zusehen, dem Voyeurismus frönen. Aber die Szene ändert sich, der Ausschnitt wird neu gewählt. Schneetreiben, eine Säge, die sich an Ästen zu schaffen macht, die Glasfassade des Primetowers – zentriert im Bild. Schattenverläufe, Totalen, Zooms auf Kuriositäten und Krähen, die ihr Gefieder auffächern und wieder schliessen. Die Künstlerinnen haben für die Videoarbeit From Our Window, 2022, über die Zeitspanne eines Jahres hinweg ihr Blickfeld aus dem Fenster gefilmt. An unterschiedlichen Tagen, zu unterschiedlichen Jahreszeiten und Wetterlagen, am Morgen, am Mittag und am Abend. Ausgewählte Filmsequenzen mit Bildern rund um den (scheinbar) ahnungslosen Hardplatz wurden in chronologischer Abfolge aneinandergereiht und gezwungenermassen reduziert, denn der Film zeigt den Ablauf eines Jahres in Spielfilmlänge. Aber ich sehe nicht nur die Kulisse Zürich, sondern auch hinter sie. Denn zeitweise geben die Künstlerinnen Einblick in Prozesse, die vor der eigentlich intendierten Aufnahme passieren. Ich sehe, wie die Schärfe des Objektivs gesetzt wird, wie das Bild gesucht wird, der ISO-Wert entschieden. Die Künstlerinnen zeigen mir nicht nur ihren Blick nach draussen – den ich geniesse, mich aber immer wieder in meiner Schaulustigkeit ertappe – sondern lassen sich zugleich selbst beobachten. Die Subjekte hinter der Kamera werden über das Bild spürbar. Und dann ist da noch der Sound. Das Rauschen der Strasse, der betörende Regen aber auch Joke Schmidt und Miriam Rutherfoord, die sich darüber unterhalten, welche Pizza sie denn nun bestellen wollen, ihre Agenden abgleichen und Telefonate führen mit Personen auf der Leinwand (das glaube ich zumindest), ihnen Anweisungen geben. Diese Brüche lassen mich unsicher werden. Beobachte ich hier wirklich einen Aussenraum oder eher die beiden Künstlerinnen in ihrem Schauen, in ihrem Suchen des Fokus und in ihren Entscheidungsfindungen?

A Take on Perception, Miriam Rutherfoord and Joke Schmidt at the Kunsthalle Winterthur

Courtesy the artists

Ich sehe Krähen auf der Leinwand und entdecke die gerahmte Fotografie, die sich oben an der linken Wand befindet und ebenfalls eine Krähe zeigt. Unscheinbar und im Dunkeln fast nicht erkenntlich. Ich​ erinnere mich daran, wie ich in diesen kinoartigen Ausstellungssaal gelangt bin. An der Rückwand der Projektionsfläche vorbei durch den Durchgang, der in den ersten Raum führt. An der Wand sind Fotoserien. Fotografien von Vögeln. Sie sind nicht immer scharf, fangen Bewegungen ein. Die Vögel fliegen vom einen Bild ins andere, oder sitzen starr auf einem Hausdach. Filmstills vielleicht? Ein Handlungsablauf ausgesuchter Protagonist*innen des Videos? Ich folge ihnen. Am Ende des Raums fällt ein schwerer, dunkelblauer Vorhang von der Decke. Der Vorhang zieht sich weiter in den Saal mit der Leinwand, und das letzte Foto verschwindet in der Höhe und im Dunkeln. Licht dringt über die Projektion in den Saal, wie durch ein Fenster. Wenn man aus dem Fenster schaut, muss man entscheiden, auf was man sich fokussieren will. Es ist nicht möglich, unsere Aufmerksamkeit auf ein ganzes Geschehen zu legen. Im Sehen treffen wir Entscheidungen. Und laufen Gefahr, Dinge zu verpassen, die das Potenzial zur Entzückung gehabt hätten. Das ist nicht weiter schlimm, wir sind es uns gewohnt. Und der Umstand, dass das Video, das ich auf der Leinwand sehe, im Loop läuft, gibt mir die Sicherheit, dass ich dieselbe Szene von Neuem entdecken kann, wenn ich die Spielfilmlänge aushalte. Aushalten lässt sie sich zweifellos. Denn das Alltägliche hat viel zu bieten. Zeitweise bekomme ich gar den Eindruck, alles da draussen würde sich bloss für die Kamera abspielen, die es vom Fenster aus beobachtet.

A Take on Perception, Miriam Rutherfoord und Joke Schmidt in der Kunsthalle Winterthur, Marktgasse 25, 8400 Winterthur, 6. März bis 15. Mai 2022

Reading Rämistrasse

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