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Reading Rämistrasse #69: Giulia Bernardi zu Not All Who Wander Are Lost bei jevouspropose - Akademie - Kunsthalle Zürich
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Reading Rämistrasse #69: Giulia Bernardi zu Not All Who Wander Are Lost bei jevouspropose

Wurzeln ziehen sich durch die Erde, steigen gelegentlich empor. Hier folgen wir ihnen mit unseren Augen, erahnen für einen kurzen Moment das Netz an Wissen, an gespeicherter Erfahrung und Zeit, das sich unter unseren Füssen entfaltet. Dann tauchen sie ab, entziehen sich uns wieder.

Fragen der Wahrnehmung, der Kategorisierung natürlicher Ressourcen, aber auch ihrer Würdigung stellen sich in der Videoarbeit Dedication von Uriel Orlow, die bei jevouspropose auf einem grossformatigen, an der Wand angelehnten Bildschirm zu sehen ist. Die ruhigen, fast schon statischen Aufnahmen fangen jene Lebensräume ein, die wir achtlos betreten, ausbeuten oder uns als Projektionsfläche eigener Vorstellungen dienen. Der Blick in die Ferne, die Landschaft als Sehnsuchtsort. Entsprechend wird die Natur nicht als Akteurin anerkannt, die Leben entstehen lässt und gesamte Ökosysteme in sich trägt. Daran erinnert uns die Widmung, die über den Aufnahmen in weissen Lettern erscheint: «to the messengers / of ancient signals / that keep us all alive».

Dass der Mensch in umfangreiche Netzwerke eingebunden ist, die seine Existenz überhaupt erst ermöglichen und fortlaufend bestimmen, geriet mit dem Humanismus der Aufklärung in Vergessenheit. Denker*innen wie René Descartes oder Immanuel Kant konstituierten den Menschen als autonom, als einziges Wesen, das moralisch handeln und sich selbst Gesetze geben kann – und folglich auch jenen, die als nicht-menschlich galten. So etablierten sich jene Dualitäten, die «Mensch» und «Natur» einander gegenüberstellten.

In den 1980er- und 1990er-Jahren begannen Vertreter*innen der posthumanistischen Bewegung wie Rosi Braidotti das humanistische Konzept des «Menschen» zu kritisieren, das keineswegs inklusiv war und als imperialistisches und patriarchales Projekt entlarvt wurde. Nicht mitgemeint waren Frauen, die nicht als rechtsmässige Subjekte anerkannt wurden (oder werden) – wir erinnern uns an das Schicksal von Olympe de Gouges nach der Französischen Revolution oder an die Tatsache, dass das Frauenstimmrecht hierzulande vor gerade mal 50 Jahren eingeführt wurde. Und nicht mitgemeint waren jene, die kolonisiert, als minder konstituiert wurden, um die weisse Herrschaft zu legitimieren. Diese rassifizierten Strukturen wirken noch heute fort, was angesichts der institutionellen und polizeilichen Gewalt deutlich wird, die sich gegen jene richtet, die als nicht-weiss gelten.

Diese kolonial und patriarchal geprägten Machtstrukturen sind auch jene, die Wissenssysteme hervorbringen, die Uriel Orlow bereits in früheren Projekten thematisierte. Etwa im Audio-Wörterbuch What Plants Were Called Before They Had a Name werden die Namen südafrikanischer Pflanzen in indigenen Sprachen vorgelesen, die in botanischen Gärten in Kapstadt noch heute lediglich in Latein oder Englisch beschriftet sind. Uriel Orlow verdeutlicht, wie sich anhand unserer Umgebung jene weisse epistemische Gewalt ablesen lässt, die indigenes Wissen verdrängt.

Aus einer posthumanistischen Perspektive lassen sich auch die Werke von Nives Widauer lesen. In ihrer Installation TERRA INCOGNITA / NO MAN’S LAND hat sie Landkarten aus dem 19. Jahrhundert zu einer menschenähnlichen Form collagiert, die nun im Schaufenster von jevouspropose zu sehen ist. Diese Dokumente, die auf den italienischen Kartografen Francesco Marmocchi zurückgehen, visualisieren eine euro-, anthropozentrische und westliche Weltanschauung. Die eingezeichneten Grenzen führen Ansprüche von Besitz und Macht vor Augen, von Raum, der nicht solidarisch verteilt wird.

Dass Wissenssysteme situativ entstehen, von gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt werden, griff Nives Widauer auch in der Serie Paracelsus auf, die zwischen 2016 und 2019 entstand. Diese ist nicht in der Ausstellung zu sehen, verdeutlicht aber ihre Herangehensweise. Ähnlich wie bei TERRA INCOGNITA / NO MAN’S LAND dienten ihr historische Materialien als Basis, in diesem Fall die anatomischen Zeichnungen von Paracelsus aus dem 16. Jahrhundert. Indem sie etwa die Darstellung eines Fusses mit einem hohen Stiletto in grüner und roter Farbe ergänzte, betont sie Geschlecht als performative, soziale Kategorie. So wird einmal mehr deutlich, wie moralische Glaubenssysteme und vermeintlich wissenschaftliche Erkenntnisse ineinanderfliessen und nie losgelöst voneinander betrachtet werden können.

Not All Who Wander Are Lost, Michael Günzburger, Uriel Orlow, Nives Widauer, curated by Susanna Koeberle

jevouspropose, Molkenstrasse 21, 8004 Zürich, 30. September – 5. Dezember 2021

Installationansicht, von links im Uhrzeigersinn, Uriel Orlow, Dedication, 2021, Video, Nives Widauer, TERRA INCOGNITA | NO MAN’S LAND, 2021, Landkarten (Marmocchi Genua 1858), Farbstift, Bleistift; Michael Günzburger, Du findest es im dunklen Teil der Eibe, 2021

Monotypie mit Druckfarbe, Wurzeln, Ei und Pigmenten auf Büttenpapier, Michael Günzburger

Der unscharfe Punkt ist der Einstieg, 2021, Monotypie mit Druckfarbe, Wurzeln und Pigmenten auf Büttenpapier. Bilder: Hannes Heinzer

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