(Ein paar Wochen später hat AJ einen weiteren Text zur selben Ausstellung geschrieben.)
Bilder eines alten weissen Mannes. Er weint. Da hat er auch allen Grund zu, denkt man sich. Schliesslich werden alte weisse Männer gerade abgeschafft. Doch Urs Lüthi porträtierte sich schon in frühen Arbeiten wie Lüthi weint auch für Sie, 1970, Selfportrait with Boa, 1970, oder I’ll be your mirror, 1970, auf eine für die damalige Schweizer Kunstszene ungewohnte Weise.
In seiner derzeitigen Ausstellung SUPERHUMAN bei Windhager von Kaenel, die nebst Bildern eine Skulptur, eine Sound- sowie eine Videoinstallation umfasst, ist das Selbstporträt einmal mehr von zentraler Bedeutung. Und irgendwie passt das ganz gut in unsere Zeit, zumal das Posten von Selfies auf Social Media Plattformen wie der Kaffee zum Frühstück gehört. Im Gegensatz zu den dort mehrheitlich idealisierten Selbstdarstellungen, konfrontiert uns Lüthi ungeschönt mit emotionalen Zuständen des menschlichen Daseins.
Beim Betrachten der Werke ist man zunächst etwas irritiert, lässt der Titel SUPERHUMAN doch anderes vermuten: Stichworte wie «Transhumanismus» kommen einem da in den Sinn, «optimierte und vollkommene Menschen», «posthumane Szenerien». Fehlanzeige. Der «Supermensch», den wir hier zu Gesicht bekommen, scheint echter als so manches Influencer- oder Social-Media-Sternchen. In den vier schwarzweissen Selbstporträts TEARS, 2020, sowie in der Videoinstallation SHAME, 2021, – in der ein Kopf immer wieder von Neuem, in einem endlosen Loop, errötet und wieder erblasst –, aber auch in der kopflosen, silbernen Skulptur aus der Serie LOST DIRECTION, 2018, stehen wir der intimen Menschlichkeit in Lüthis Arbeiten gegenüber: Er zeigt sich verletzlich, traurig, beschämt, verloren. No fake! Er entblösst die eigenen Schwächen. Und das ist seltsam berührend. Wer fühlt sich denn schon nicht manchmal traurig oder verloren?
Zugleich spielt Lüthi, einmal mehr, geschickt mit Ambivalenzen. Während seine frühen Werke kompositorisch noch an klassische Porträts erinnern – bloss etwas provokativer und ironischer als wir das von Dürer, Rembrandt & Co. gewohnt sind –, bedient Lüthi sich in seinen neusten Arbeiten einer Ästhetik des Virtuellen, indem er mit Filtern und Überblendungen arbeitet und sich so das Aussehen eines Avatars verleiht. Dadurch wirken sie künstlich oder theatral, mit ihren verstörenden und leeren Blicken gar entrückt. Die suggerierte Nähe erfährt somit einen Bruch, erzeugt mit der gleichzeitigen Entfremdung Distanz: Es wird ein Kippmoment zwischen Präsentation und Repräsentation evoziert. In einer Welt, in der wir schon längst zum Datenobjekt mutiert sind, rücken damit Fragen nach der eigenen Identität, nach dem Menschsein, in den Vordergrund: Was ist Identität? Wie zeigen wir uns? Wie wollen wir sein? Und wer sind wir wirklich?
Die Stille dieser Atmosphäre durchbricht einzig ein melancholisch anmutendes, vogelähnliches Zwitschern. Es dringt aus der Bank Selfportrait MORNING SUN, 2021, im hinteren Raum der Ausstellung. Vielleicht lassen wir uns darauf nieder und sinnieren mit Sicht auf den begrünten Hinterhof über unser eigenes Konstrukt als Superhuman.
Wollen Sie aus einem anderen Blickwinkel über Urs Lüthis Ausstellung SUPERHUMAN lesen? AJ hat die Ausstellung ebenfalls für Reading Rämistrasse rezensiert – hier.
Urs Lüthi SUPERHUMAN, Windhager von Kaenel, Aemtlerstrasse 73, 8003 Zürich
11. Juni bis 31. Juli 2021
Bilder: Ausstellungsansichten von Urs Lüthi SUPERHUMAN bei Windhager von Kaenel, Zürich, 2021, courtesy: Der Künstler und Windhager von Kaenel