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Reading Rämistrasse #36: Aglaia Brändli & Johanna Vieli zu .CH in der Mai 36 Galerie

Teil 1: Die Einladung

Anlass zu dieser Ausstellungsbesprechung hat die irritierende Einladungskarte der Mai 36 Galerie gegeben. Auf weissem Grund ist darauf eins zu eins das Schweizer Länderkennzeichen abgebildet, das normalerweise gut sichtbar am Heck von Kraftfahrzeugen klebt. Die Buchstaben C und H, oval umrandet, markieren als Logo die nationale Identität von Schweizer Vehikeln im ausländischen Strassenverkehr. Hier, auf der Einladungskarte, wird der CH-Kleber zum «Brand» einer Ausstellung, die unter dem Decknamen der Confoederatio Helvetica eine Gruppe von sieben Künstler*innen zusammenbringt.

Leicht ändert die Galerie das Logo auf der Einladungskarte jedoch ab. Dem Schriftbild stellt sie einen Punkt voran, womit die Zeichen «.ch» ebenso auf die Top-Level-Domain der Schweiz referieren. Was erwartet uns bei dieser Ankündigung? Netzkunst, die sich auf einem Schweizer Server befindet? Oder aber ein erneuter – und wohl zum Scheitern verdammter – Versuch, das Label Schweizer Kunst aufrechtzuerhalten? Unsere polemische Unterstellung bestätigt sich auf dem virtuellen Rundgang durch die Räumlichkeiten der Galerie. In einführenden Worten erklärt der Direktor Victor Gisler das Konzept der Ausstellung und geht auf die Gemeinsamkeiten der künstlerischen Positionen ein. Er betont den speziellen Bezug der Künstler*innen zu Zürich sowie die Tatsache, dass sie allesamt stolze Besitzer*innen des Schweizer Passes sind.

Kommerziell funktioniert das Schweizer Label, wie bei Christie's und Sotheby's zu beobachten ist. Im letzten Jahr führten die Häuser gezielt Auktionen mit der Kategorie Schweizer Kunst durch, um Sammler*innen anzulocken. Doch wie zeitgemäss ist es, eine inhaltliche Diskussion über Kunst entlang nationaler Grenzen zu führen?

Wir gehen hin und machen uns ein Bild.

Teil 2: Die Ausstellung

Die Ausstellung .CH erstreckt sich über zwei Stockwerke der Galerie und widmet jeder künstlerischen Position einen eigenen Raum. Die Werke der Künstler*innen treten damit in keinen Dialog miteinander, viel eher steht in der Präsentation ein monografischer Aspekt im Vordergrund. Dieser artikuliert sich nicht nur räumlich, sondern dringt auch im Ausstellungstext visuell sowie inhaltlich durch. Die Beschriebe der künstlerischen Positionen sind grafisch voneinander abgetrennt und biografische Eckdaten rahmen die kurzgehaltenen Texte – der Fokus liegt nicht vorwiegend auf den Werken, sondern auf den Künstler*innen und ihren persönlichen Bezügen zur Schweiz.

Die Schweiz suchen wir in der Ausstellung vergeblich. Zu sehen sind Malereien, Skulpturen, Zeichnungen und fotografische Werke, verschiedene Techniken und Materialien, sowie eine Pluralität an Stilen und Einflüssen – von Rémy Zauggs Schriftbildern über die abstrakten Malereien von Pia Fries bis hin zu den architektonischen Auseinandersetzungen von Harald F. Müller.

So problematisch und hilflos der Titel auch ist, die Ausstellung stellt zu unserer Erleichterung keinen Versuch dar, eine Tradition der Schweizer Kunst festzuschreiben. Die nationale Identität steht bei den Werken nicht im Zentrum und dient bloss als Narrativ, um diese über den kleinsten gemeinsamen Nenner zu kontextualisieren. Während wir die Werke in der Ausstellung betrachten, erscheint uns die thematische Rahmung zunehmend absurd. Ein Stück Schweiz finden wir am Ende unseres Ausstellungsrundgangs dann doch: Ian Anüll integriert in seine Collagen zur Coronaberichtserstattung ein Reiheli Schoki und verwendet das berühmte Exportgut sogar als Farbe, um die Textstellen zu übermalen.

Was bewegt die Galerie dazu, heutzutage eine Ausstellung aufgrund von nationaler Zugehörigkeit zu konzipieren? Lassen sich die Werke der Künstler*innen besser vermarkten, wenn ihnen das Label Swiss Made anhaftet? Interessant ist der Zeitpunkt der Ausstellung .CH. Nicht vor langer Zeit zog die Galerie Maria Bernheim aus dem Dunstkreis des Löwenbräus an die Rämistrasse. Seither ist in unmittelbarer Nachbarschaft eine Galerie präsent, die in ihrem Programm eine lokale, junge Generation von Künstler*innen vertritt, deren Lebensmittelpunkt in der Schweiz ist, unabhängig von ihrer Passfarbe. Mit der aktuellen Ausstellung zeigt sich auch die international ausgerichtete Mai 36 Galerie lokal. Will sie sich mit ihren Schweizer Positionen gegenüber der Galerie Maria Bernheim positionieren, oder von einer lokal interessierten Sammlerschaft profitieren? Hin oder her, Schweizer Kunst zu zeigen ist nicht per se zu kritisieren, die Artikulation der Mai 36 scheint uns jedoch ungeschickt, die Wahl des Titels unbeholfen. Er suggeriert durch seinen Verweis auf das World Wide Web eine Offenheit, die Anspielung auf das Internet enthüllt sich in der Ausstellung allerdings als leeres Versprechen. Offenheit findet sich in der Vielfalt der künstlerischen Praxen, dass die Galerie die Zusammenstellung aber lediglich über eine nationale Zugehörigkeit der Künstler*innen begründet, zeugt von Engstirnigkeit, bestenfalls von Bequemlichkeit.

.CH zeigt werke von Ian Anüll, Pia Fries, Christian Lindow, Harald F. Müller, Christoph Rütimann, Albrecht Schnider und Rémy Zaugg.

.CH, Mai 36 Galerie, 29. Januar - 27. März 2021

Reading Rämistrasse

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