Stefan Tcherepnin
Honky Tonk Calamity >< Ms. Fortune on the Links
Stefan Tcherepnin spielte an der Eröffnung in seiner Ausstellung: An Evening of Live Music at the Steeplechase Bar and Grill featuring Yanik Soland, Veit Laurent Kurz and Stefan "Jackson" Tcherepnin.
Die Eröffnung auf VernissageTV
Sie betreten eine Ausstellung, als würden Sie ein Hirn betreten, das sich gerade eine Satire in Form einer musikalischen Komposition ausdenkt. Der Titel der Ausstellung verrät bereits einiges: Honky Tonk Calamity >< Ms. Fortune on the Links. Oder zu Deutsch Honky Tonk Unheil ><Frau Glück und Unglück auf dem Golfplatz. «Honky Tonk» bezeichnet ursprünglich ein lautes Lokal mit Alkohol und Live-Musik, also eine Kneipe, wie sie bis heute besonders in den US-amerikanischen Südstaaten populär ist, oft gefüllt mit (Country-)Musik. «Ms. Fortune» ist ein Wortspiel zwischen Miss Fortune (Frau Glück) und Misfortune (Unglück). Link wiederum steht für den Golfplatz, wie er ursprünglich an der schottischen Küste entstand, wo seit dem 17. Jahrhundert gegolft wird. Die beiden Zeichen > beziehungsweise < bedeuten «grösser als» bzw. «kleiner als». In der Form, wie sie hier verwendet werden, heben sie sich gegenseitig auf und bedeuten somit =. Oder sie können als Spiegelung verstanden werden, mit anderen Worten: Honky Tonk Desaster = Glück im Unglück im Golf. Oder es spielt auf das beliebte Emoji Grinning Squinting Face (><) an, eine Geste der Zustimmung.
Stefan Tcherepnin, 1977 in Boston geboren, ist Komponist, Musiker und Künstler. Er lebt und arbeitet in Brooklyn und entstammt einer Familie von Komponisten: sein Urgrossvater Nikolai Tcherepnin studierte bei Nikolai Rimski-Korsakow in St. Petersburg war unter anderem von 1917 bis 1921 Direktor des Konservatoriums von Tbilisi. Sein Grossvater und sein Vater waren ebenfalls Komponisten, so auch sein Bruder, der Künstler und Musiker Sergei Tcherepnin. Stefan Tcherepnin ist ein Fellow der New York Foundation for the Arts (in Music Composition, 2008 bis 2009) und tritt immer wieder in verschiedenen Formationen mit verschiedenen Musikerinnen und Musikern auf (Real Rags, Beautiful Balance, Steit, PSST, Tsarz Carz, Real Gospel, Existential Blowfish u.a.). Im September 2019 erscheint ein neues Album von Tcherepnins Band Afuma (mit Taketo Shimada) bei Blank Forms Editions.
Seine Herangehensweise, sein Denken und seine Musikproduktion kennen keinerlei Berührungsängste: Von Noise zu Techno über experimentelle zeitgenössische Musik wie Maryanne Amacher bis hin zu Country Music ist alles wert, gespielt zu werden. Dasselbe trifft auch auf seine künstlerische Praxis zu, die sich ebenfalls oft kollaborativ entwickelt, so unter anderem mit Richard Aldrich, Ei Arakawa, Max Brand, Wally Blanchard, Michaela Eichwald, Karl Holmqvist, Anne Imhof, Veit Laurent Kurz, Jutta Koether, Tobias Madison, Seth Price, Emanuel Rossetti, Jay Sanders, Josef Strau, Emily Sundblad, Sergei Tcherepnin, Hanna Törnudd, Robbie Lee und Jan Vorisek.
Diese Offenheit und dieser Sinn für das Experiment und das Ungewisse prägen auch Honky Tonk Calamity >< Ms. Fortune on the Links in der Kunsthalle Zürich. So ist die Ausstellung gleichzeitig eine Bar, ein Club und ein immersives Environment. Anlässlich der Eröffnung vom 30. August spielt Stefan Tcherepnin gemeinsam mit dem Basler Musiker Yanik Soland und dem Berliner Künstler und Musiker Veit Laurent Kurz. Weitere Konzerte von unterschiedlichen Gruppen werden im Herbst folgen (organisiert in Zusammenarbeit mit Matthew Hanson). Zudem erscheint zur Vernissage anstelle eines Katalogs die Vinyl Single Stefan Tcherepnin Sings mit drei neuen Liedern.
Die Ausstellung selbst entwickelt sich wie eine musikalische Komposition, welche sich über eine Reihe von Motiven, Refrains, Umkehrungen, Verzerrungen, Parodien und Wiederholungen fortlaufend neu verschachtelt. Zu den zentralen Motiven gehören – wie im Titel bereits angespielt – die Spiegelung, der Golfplatz und der Country Music Club. Dazu kommen sechs Cookie-Monsters, eine Auswahl von Landschaftsdarstellungen und natürlich die Musik selbst. Daraus entsteht eine zentrifugale Ausstellung, eine Art Wirbel, damit der Ausstellungsbesuch ähnlich wirkt wie dem Betreten eines Hirns beim assoziativen Denken. Es ist eine Begegnung mit der «Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelt», wie es Peter Handke in seiner 1969 erschienen Textsammlung und Sprachkritik betitelt hat.
Die drei Elemente Honky Tonk, Golf und Cookie Monster bilden die Basis dieser räumlichen Denkaktion. Es sind drei tragende Motive aus der amerikanischen Kultur, die ebenso prägend wie umstritten und zweifelhaft sind. Honky Tonk steht einerseits für die Welt des texanischen Cowboys, auch für eine Gemeinschaft am Rande, die mit grossem Herz für Musik, die nicht selten für männliche oder zuweilen auch rassistisch motivierte Solidarität steht, für raue Gradlinigkeit und ruppige Aufrichtigkeit. Zweitens: die Kultur des Golf. In Europa eher ein Sport der Oberschicht, wurde Golf in den USA zum Breitensport, ohne jedoch an Exklusivität einzubüssen. Auf dem Golfplatz wurden (und werden) Beziehungen geknüpft und wichtige Deals abgeschlossen, geschmackvoll eingebettet in eine domestizierte Natur. Wenn der Golfplatz der neue französische Landschaftsgarten der Oberschicht ist, so ist das Clubhaus ihre Honky Tonk Bar. Erst in letzter Zeit ist der Sport etwas in Verruf geraten, weil er immer öfters mit dem Über-Golfer Donald Trump und seiner umstrittenen Vorstellung von Kultur und Welt assoziiert wird. Die Sponsoren aber halten dem Golf die Treue. Und die Millenials? Hat Golf einen guten CO2-Fussabdruck? Als drittes Motiv tritt das Cookie Monster in sechsfacher Ausführung auf. Als menschenähnliches, grossaugiges und unwiderstehliches Knuddelmonster entstand es 1969 für die bekannte TV-Serie Sesame Street (Sesamstrasse). Immer auf der Suche nach Zucker und Cookies (Kekse) ist das Cookie Monster das perfekte Abbild des Kindes, angefixt vom Zuckerrausch und auf Vollgas am Hyperventilieren, als wäre es ein Sammler oder eine Galeristin am Eröffnungstag einer Kunstmesse. Am Cookie Monster lässt sich auch ablesen, wie versucht wird, Motive der (Pop-)Kultur neu zu kodieren: Seit kurzem muss es weg vom Zucker hin zu Obst, Gemüse und Gesundheit, um eine neue Vorbildfunktion übernehmen zu können. In Kürze werden auch die Golfer in renaturierten Hochmooren spielen und für den WWF putten.
Das ist alles dramatisch und tragisch, die Welt scheint aus den Fugen geraten. Aber wir befinden uns hier in einer Satire, wo das Gesetz des Humors regiert, des Absurden und der verschrobenen Poesie. Honky Tonk Calamity >< Ms. Fortune on the Links wird so zur Oase, sie ist umzingelt von sich heftig artikulierenden Moralvorstellungen, von Irrungen und Wirrungen und globaler Tweet-Besserwisserei. Nicht, dass jetzt alles daneben wäre, was auf uns runter prasselt – im Gegenteil. Und es ist nicht unangenehm, wie Empörungen uns zuverlässig der Langeweile entreissen. Aber wo bleibt das Lachen und die Selbstironie? Ist :) wirklich genug? Honky Tonk Calamity >< Ms. Fortune on the Links entwirft dazu eine Alternative, sie hat das Potential zur Republik der Satire. DB
Mit Dank an die Galerie Francesca Pia