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Julie Becker

31.05.–03.08.1997

«Die 25jährige amerikanische Senkrechtstarterin – sie repräsentierte Nordamerika an der 23. Biennale in São Paulo – zeigt eine grossräumige Installation mit dem Titel «Researchers, Residents, a Place to Rest» (1993-1996), daneben eine Serie photographischer Arbeiten. […] sie arbeitet auf vielfältige Weise mit Räumen. Environments, dreidimensionale Modelle und Zeichnungen von Interieurs, nachgebaute Wohnraumsituationen und arrangierte Packkartons von Eisschränken, die anthropomorph wirken (und in einem anderen Kontext für Obdachlose letztes Refugium sein können). Man betritt die Installation durch einen Warteraum, in dem ein Sofa, ein Pult mit einem kleinen Aquarium, eine Bürolampe stehen. Schilder wie «Immobilienmakler», «Concierge», «Warteraum» und «Psychiater» signalisieren alternative Blickwinkel, unter denen der Innenraum der Installation jeweils gesehen werden kann. Diese multiple choice weist auf Beckers Interesse hin, den Betrachter mit der Frage zu konfrontieren, warum er welche Betrachterrolle einnimmt, wie er eine präsentierte Situation interpretiert.

Um aber in der delirierend anmutenden Materialsammlung die notwendige Identifikation zu garantieren, hat die Künstlerin ihr Wohnhaus mit fiktiven Charakteren bevölkert. Tritt man durch den Eingangsraum hindurch, sieht man ihre Wohnungen als Kojen in einem langen, knapp über dem Boden aufliegenden Modell. Auch hier verschiebt sich der Fokus des Betrachters, werden die Grenzen von innen und aussen durchlssig. Der werkstattmässige Schlussraum hat wieder reale Grösse, bleibt aber dennoch künstlich, vollgepfropft mit Zeichen einer inszenierten Authentizität. Und hier hängen auch die Bewohnerprofile, die Aufschluss über die Lebendigkeit von Menschen geben sollen, von denen der Betrachter bis jetzt nur mehrdeutige Spuren sammelte. Liest man die Texte, stellt man allmählich fest, dass die Beschreibung der «residents» etwa so differenziert ist wie ein mittels Computerprogramm hergestelltes astrologisches Persönlichkeitsprofil. Beckers Installation ist offensichtlich Allegorie, ein Bild der Heimatlosigkeit und der konstitutiven Isolation der Menschen im Fin de siècle. Das Reale bleibt geisterhaft, «a ghost moving through walls», wie die Künstlerin resümierte.»

Daniel Kurjakovic, Neue Zürcher Zeitung, 10. Juni 1997