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Reading Rämistrasse #136: Lisa Maillard und Johanna Vieli zu Interdependencies beim Migros Museum für Gegenwartskunst - Akademie - Kunsthalle Zürich
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Reading Rämistrasse #136: Lisa Maillard und Johanna Vieli zu Interdependencies beim Migros Museum für Gegenwartskunst

Mit der aktuellen Ausstellung Interdependencies: Perspectives on Care and Resilience hat sich das Migros Museum eine Herkulesaufgabe gestellt. Unter dem lose gefassten Trendthema Care sind auf zwei Stockwerken Arbeiten von 14 Künstler:innen versammelt und darüber hinaus einen Caring Space für die Besucher:innen eingerichtet.

Über drei Treppenstufen gelangt das Publikum in die Ausstellung und trifft auf The Clock Is Always Wrong (Other Mouth), 2023, von Johanna Hedva. Aus einem tropfenförmigen, fragilen Glasbehälter, der mit Stahlketten an der Decke befestigt ist, tropft eine zähflüssige Materie auf einen kreisrunden Spannteppich. Gemäss einer Sanduhr ist die Menge der Flüssigkeit auf die Laufdauer der Ausstellung abgestimmt. Genauso wie auf ihre eigene Vergänglichkeit verweist die Arbeit auf das Konzept der «Crip Time»: Die kapitalistisch genormte, sozial akzeptierte Zeitstruktur wird nicht allen Realitäten gerecht.

Ausstellungsansicht Interdependencies: Perspektiven zu Care und Resilienz, Jesse Darling, Untitled (still life), 2018 - ongoing

Courtesy the artist and Arcadia Missa, London. Foto: Studio Stucky

Auf der zweiten Ausstellungsebene treffen die Besuchenden auf eine vielstimmige Ansammlung künstlerischer Arbeiten. Darunter Relax (Erotic Hypnosis), 2023, von Ezra Benus, eine sinnliche Arbeit, in der mit einem Augenzwinkern Massagegerät und zugleich Kultvibrator «Hitachi Magic Wand» entlang dreier Bettpfannen scheppert; vier verdorbene Blumenbouquets auf Sockeln unter angelaufenen Vitrinen von Jesse Darling, die den Zyklus von Leben und Tod darstellen; das Video RAFTS, 2022-23, von Rory Pilgrim, eine Zelebrierung kollektiver Fürsorgestrukturen unter Einbindung selbstorganisierter Gruppen. Innerhalb des Spektrums derer, die Care Arbeit leisten, wird im Kontext der Ausstellung der Schwerpunkt auf (unbezahlte) Selbst- und selbstorganisierte Fürsorge gesetzt. Eine grosse Ausnahme ist die Videoinstallation For They Let In The Light, 2022-23, von vacuum cleaner and collaborators. Darin nehmen Carearbeiter:innen eines Zentrums für psychische Gesundheit in London eine zentrale Rolle ein. Um ihre Anonymität zu gewährleisten, performen sie liebevoll die Reflexionen ihrer Patient:innen zu den gestiegenen Zahlen psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen. vacuum cleaner and collaborators organisierten Workshops, im Rahmen derer diese Auseinandersetzung stattfanden. Die Filminstallation wird zu einem bewegenden Gemeinschaftswerk, das der Intimität zwischen Künstler:innen, Carearbeiter:innen und Patient:innen gerecht wird.

Ausstellungsansicht Interdependencies: Perspektiven zu Care und Resilienz, the vacuum cleaner, For They Let In The Light, 2022-2023

Courtesy the artist. Foto: Studio Stucky

Der theoretische Rahmen der Ausstellung steckt das ganze Spektrum von Care grobmaschig ab. Von Spiritualität, über alternative Heilpraktiken bis hin zur Pharmaindustrie; Mutterschaft, körperliche und physische Erkrankung sowie Behinderung; von Selbstfürsorge über gemeinschaftliches Handeln, bis hin zur staatlichen Rolle im Gesundheitswesen. Unter dem breit gefassten Oberthema der Interdependenz wird vieles angesprochen und einiges ausgelassen. Im Ausstellungsraum ist die auf Fürsorge angewiesene Seite im Vordergrund und Care Work wird inhaltlich grösstenteils ausgeklammert. Damit entsteht ein liberales Bild von Fürsorge, das auf Eigenverantwortung setzt. Im Versuch, diese Themenvielfalt in einer Ausstellung zu behandeln, gehen Feinheiten der künstlerischen Arbeiten verloren. Mut zur Lücke mittels einer Präzisierung der Fragestellung hätte Verbindungen zwischen den Positionen zugelassen.

Am Ende und Anfang der Ausstellung befindet sich der rosafarbene Caring Space. Loungeartige Sitzgelegenheiten, mit Vorhängen abgetrennt und eine Auswahl an Publikationen laden Besuchende ein, sich bei einem Gratisgetränk zu erholen. Bei unseren Aufenthalten sehr gut ausgelastet, bietet der Raum offensichtlich ein willkommenes Gefäss, um bei Gesprächen das eben Gesehene zu reflektieren und sich auszuruhen. Der Caring Space rezipiert eine generische Architektur, die von Coworking Spaces bekannt ist. In seiner Allgemeingültigkeit liegt gerade die Schwierigkeit. Das Bedürfnis nach Care kennt keine typischen Ausprägungen – sie ist von Mensch zu Mensch verschieden. Dass ein Museum Raum bietet, zu sinnieren, ist eine schöne Praxis – Caring Space jedoch nicht die geeignete Begrifflichkeit.

Das Migros Museum gewährt neuerdings freien Eintritt, das ganze Team ist in der Ausstellung kreditiert, Trigger Warnungen wurden verfasst und an manchen Stellen sind auch Sitzgelegenheiten für die Besucher:innen bereitgestellt. Ob dies mehr als performative Gesten sind, wird sich in den kommenden Ausstellungen zeigen. Insgesamt hätte sich eine institutionskritische Auseinandersetzung mit den eigenen Räumlichkeiten angeboten. Der hürdenarme Eintritt führt über das anliegende Haus, Lift hoch, einen verlassenen Korridor entlang, Lift herunter, ums Eck zum Empfang ins Migros Museum, von dort in die Ausstellung – wenn da nur die drei Treppenstufen nicht wären…

Interdependencies: Perspectives on Care and Resilience, Migros Museum für Gegenwartskunst, 7. Oktober 2023–21. Januar 2024

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