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Rodney Graham

Music and Noise

09.11.2002–12.01.2003

Der kanadische Künstler Rodney Graham (1949, lebt und arbeitet in Vancouver) stellt sich in seiner ersten Einzelausstellung in der Schweiz mit neuesten und dazu gruppierten älteren Arbeiten vor. Die Arbeiten der Ausstellung kreisen um Klassische- und Pop-Musik und extreme Sounds und stellen die Erfahrungen, die das Subjekt mit diesen Erscheinungen als Systeme unseres Alltags, unserer Kultur macht, elegant und humorvoll ins Zentrum seiner künstlerischen Transformationen. Rodney Grahams Werke, die häufig aus­­­ge­hend von unbekannten Details neue Blicke auf Bekanntes unserer Kultur werfen und ihm damit über­­ra­schende Aspekte und Momente abringen, waren an zahlreichen internationalen Ausstellungen vertreten, wie z.B. Skulpturprojekte Münster, 1987, documenta IX, 1992, Kassel. Grosse Einzelausstellungen rich­teten ihm die Kunsthalle Wien und das DIA Center for Contemporary Art in New York aus. Einem grösseren Publikum bekannt ist der Künstler seit seiner Arbeit "Vexation Island" für den Kanadischen Pavillion auf der Biennale di Venezia, 1997. Zur Zeit ist eine Retrospektive seiner Arbeiten, die die in Zürich gezeigten Arbeiten nicht umfasst, in der Whitechapel Gallery, London, zu sehen.

Rodney Graham (1949, lebt und arbeitet in Vancouver) stellt am Eröffnungsabend sein neues, nun viertes Musikalbum »Music for the Very Old« in einem Konzert als Sänger und Gitarrist vor. Acht Konzerte werden während der Ausstellungszeit mit seinen »Parsifal«- Kompositionen aufgeführt... Ist Rodney Graham Musi­ker und Komponist? Oder gefällt sich der Künstler im Aneignungsspiel des aktuellen Crossover?

Tatsächlich bewegt sich Rodney Graham mit frappierender Sicherheit zwischen vielen künstlerischen und auch wissenschaftlichen Themengebieten. In der Diskussion um die Vermischung der künstlerischen Gat-tungen und um die in der Kunst vermehrt realisierte Annäherung zur Popkultur nimmt Rodney Graham eine besondere Stellung ein: Er betont nicht das Differente der Kunstformen, die er überlagert, sondern agiert als unablässig übender Generalist, der die unterschiedlichen Ausdrucksformen der Künste als untrennbar betrachtet. Parallele Systeme und Formen behandelt er als kreatives Potential für seine heterogenen Werke und modifiziert sie für die ganze Breite seiner künstlerischen Umsetzungen in Installation, Fotografie, Film, Video, Literatur und Musik. Inhaltlich beschäftigt sich der Künstler mit philosophischen, historischen, lite­rarischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisgebieten, wobei er sowohl an den spezifischen Qualitäten, wie an den Paradoxien, dem Ungesehenen, Unheimlichen und Unbewussten interessiert ist. Dabei greift er oft das Randständige eines bekannten Ereignisses oder einer bekannten Errungenschaft heraus, um über nebensächliche Aspekte neue Zugangsweisen zum Gegenstand zu beschreiten. Seine künstlerische Vor­gehensweise erinnert dabei an das lustvolle Demontieren im Dienste des Kenntnisgewinns, mit dem Kinder die Geheimnisse eines Spielzeuges oder Gegenstandes zu ergründen versuchen.

»Parsifal« (1882 ca. 17 Uhr bis 38 969 364 735 ca. 19.30 Uhr), 1990, etwa geht von einer Begebenheit während der ersten Aufführung der Oper 1882 in Bayreuth aus. Für die Veränderung des Bühnenbildes, die Parsifal auf dem Weg zum Gral begleitet, brauchte es 4 Minuten mehr Musik. Wagner weigerte sich diese zu schreiben und so ergänzte sein damaliger Assistent, der Komponist Engelbert Humperdinck, aus dem bestehenden Musikmaterial einige Takte, die dem Orchester einen Loop zurück in die Partitur für die Dauer des Bühnenbildwechsels ermöglichte. Mit diesen Takten entwickelte Graham ein System, das eine Kompo-si­tion generiert, die zwar nach einer präzisen Zeit endet, aber nach menschlichem Ermessen nie erfahrbar sein wird. Er trennte die einzelnen Stimmen und Pausen. Jede Stimme wiederholt sich (wird geloopt), aber da die Sequenzen von 4 Sekunden bis 4 Minuten reichen, entstehen unendliche Kombinationsmöglichkeiten. Nach 39 Milliarden Jahren treffen alle Stimmen wieder zusammen. Wichtig, erstaunlich und das klassische Musik-System variierend ist, dass Graham die Praxis der Musikinterpretation von Kompositionen durch­-
einander wirbelt, einen kleinen Seitenhieb auf die kosmische Dimension des Zeitlichen austeilt und eine Musik komponiert, die spezifisch, individuell und nicht wiederholbar in unserem vorstellbaren Zeithorizont ist. Neben diesen erstaunlichen Variationen zur Theorie und Praxis der klassischen Musik beinhaltet Grahams »Parsifal« weitere zentrale Elemente der Arbeit des Künstlers, wie z.B. die Position und Rolle des Subjektes angesichts der Systeme, die unsere Kultur in der Moderne entwickelt hat; die Wandlung und
die Wiederholung des Gleichen in der Auffassung der Postmoderne und die kleinen Variationen, die uns die Geheimnisse der Systeme ermöglichen können.

Das Verhältnis von Unbewusstem und Bewusstem spielt deshalb in den Arbeiten des Künstlers immer wieder eine grosse Rolle. Seine Arbeiten zu Sigmund Freud sprechen davon, aber auch Arbeiten, die sich mit den Mitteln und Methoden zu veränderten Bewusstseinszuständen beschäftigen: Wie »Halcion Sleep«, 1994, eine Filmarbeit, in der er sich benommen von Schlafmittel auf dem Rücksitz eines Wagens fahren lässt oder aber die in Zürich präsenten Arbeiten »Softcore«, 1999, und »Phonokinetoscope«, 2001.

Sie reflektieren unsere Subjektkonstruktionen und ihre Brüchigkeit. Und sie reflektieren die 'Performance' des Individuums in der Realität. Ein Thema, das Rodney Graham in seiner Arbeit immer wieder aufgreift und auch praktiziert: Als Musiker, als Darsteller in seinen Filmen, in denen er in die Rolle klischeebesetzter Bilder aus der Film-, Wissenschafts- und Musikgeschichte schlüpft und als Provokateur des Performativen im Einbezug des Publikums. Rodney Grahams Auseinandersetzung mit der Popmusik entstand aus seiner Faszination für populäre Phänomene: der Star, der perfekte Cover-Song.

»Softcore« greift gleich mehrere dieser Phänomene und Geschichten auf: Michelangelo Antonioni lud ver­schiedene Musiker nach Rom ein, um den Soundtrack für »Zabriskie Point« von 1970 einzuspielen. Obwohl Pink Floyd für die Tonspur des Filmes zeichnen, sind andere Stars ebenfalls vertreten. Jerry Garcia etwa, der Gitarrist und Sänger von Grateful Dead, der von Antonioni um Musik gebeten wurde für die Liebes­szene, die mit den immer mehr werdenden nackten Paaren in der Wüste eine Art Fantasie der sexuellen Revolution darstellt. Garcia schlug vor, live vor dem Rohschnitt der Szene zu improvisieren. »Softcore« ist Grahams Wiederholung dieses Live – Events: Zuerst als Performance aufgeführt, führt Graham in »Softcore« Garcias Improvisationen als Musiker wieder auf.

»Phonokinetoscope« bringt Wissenschaft, Film und Musik in einer Art anachronistischem Videoclip zusammen und thematisiert psychedelische Momente der Popmusik. Gleichzeitig spannt sie einen Bogen zu anderen Arbeiten des Künstlers, die mit der Erscheinung von Bildern und der Beziehung des Subjektes
zum Bild, initiiert durch das Licht der Maschine, operieren. In der Ausstellung werden diese in der ebenfalls gezeigten Arbeit »Two Generators«, 1984, zentral. »Phonokinetoscope« besteht aus einer Schallplatte und einem 16mm Film, der durch den Plattenspieler in Gang gesetzt wird. Das Bild des hippen Plattenspielers der DJ-Kultur überlagert sich mit der Erinnerung an gleich zwei Anekdoten aus der Wissenschaft: Ein frühes Experiment von Edison zum Zusammenspiel von Musik und Ton und die vielzitierte Fahrradfahrt von Dr. Albert Hoffmann, dem Erfinder des LSD, der 1943 nach einem Selbstversuch über die Rheinbrücke fuhr. Der Soundtrack der Arbeit wurde von Graham komponiert, gespielt und gesungen und bezieht sich u. a. auf Syd Barretts Song »Bike«, der mit einem psychedelischen Soundexzess endet. Graham nimmt vor einer Rekonstruktion des Rousseauschen Grabes im Berliner Tiergarten LSD und fährt vorwärts und rückwärts radelnd durch den Park. Eine eingeklemmte Karte, die Herzdame seiner Popsongs, ist zwischen die Speichen des Fahrrades geklemmt und parallelisiert das Flickern des Filmmaterials – ein leichter, humorvoller Loop durch die Zeit, mit der Musik und in der Überwindung des kulturellen Ready-Made des Subjekts.