Keith Tyson
Die parallelen Ausstellungen von Keith Tyson (GB, geboren 1969) und Verne Dawson (USA, geboren 1961) zeigen Werke, die unterschiedlicher nicht aussehen könnten, dennoch kreisen die Arbeiten beider Künstler um die Präsenz von Erklärungsmodellen und Mythen, die unserer Wahrnehmung und damit auch unserer Wirklichkeit zugrunde liegen.
Keith Tyson breitet in vier Räumen ein Universum von Objekten, Gemälden, Fotoarbeiten und Installation-en aus, das in einer Vielzahl von künstlerischen Stilen Elemente unserer Wirklichkeitskonstruktionen und Erklärungsmodelle als Materialisierungen aufscheinen lässt. Philosophie, Wissenschaft, Technologie, Sprache, Beschreibungsmuster für Formen der Natur wie der Kultur sind Ordnungsstrukturen für Wirk-lichkeit. Tyson lässt sie in seinem Labor durch transitorische Formationen und unendliche Listen von Möglichkeiten wandern. Er realisiert Arbeiten, die Chaos und Ordnung, Raum und Zeit, Möglichkeit und Tatsächlichkeit in Beziehung setzen zum Individuum, das als Betrachter vor einer Landschaft der Gleich-zeitigkeit von Mikro- und Makrokosmos steht.
Bei den Arbeiten Keith Tysons befindet man sich zugleich vor Idee und Materialisierung der Bibliothek von Babel, der unendlichen Anzahl von Räumen und Büchern, die wiederum mehrdimensional und unend-lich Räume und Ideen ausbreiten, die vom Schriftsteller Jorge Luis Borges beschrieben wurde. Dieses Universum enthält keine zwei identischen Bücher (oder Dinge), es ist unendlich sowohl in seiner räum-lichen Ausbreitung wie in seiner räumlichen Reduktion, also vielleicht nur Zeit. Man befindet sich aber auch vor dem Bild des Internets, des Nervensystems und Marcel Duchamps konzeptuellen und para-wissenschaftlichen Strategien oder aber auf einem wilden Ritt entlang der Grenzen wissenschaftlicher Modelle die Science Fiction und Realität zugleich sind.
Die Exponate der Ausstellung sind hybride Gestalten – sie generieren in Form von Spielen, Bildern, Maschinen oder Mechanismen Orte, von denen sich mit sprachlichen, mathematischen, physikalischen Elementen Literatur, Inventare, Phänomene in räumlich und zeitlich unendliche Sphären ausbreiten. Ausgehend von einer neuen Werkgruppe des Künstlers, die für seine Einzelausstellung in der South London Gallery in diesem Jahr entstanden ist, wurde die Ausstellung erweitert mit neuesten und älteren Arbeiten: Ein “Supercollider”, 2001, der ausgehend von der Idee des Teilchenbeschleunigers des Cern auf einer Bildfläche Beschreibungen und Abbildungen existierender Realitätselemente mehrdimensional überlagert und die existierende “Materie” als Netz logischer und unlogischer Gleichzeitigkeiten verdichtet, tritt auf zusammen mit dem “Think Tank”, 2002, einem neuronalen Netz von Formen und Beschreibungen, das Fiktionales verwebt, der wiederum eine Potenzierung erfährt durch die Arbeit “Escape Mechanism”, 2002, die mit sprachlichen Listen von Ereignissen Zeit und Raum kollabieren lässt. Ein Wandgemälde, das den Blick auf eine zelluläre Struktur als gigantische Landschaft ausbreitet, findet ein Gegenüber in einer Fotografie von banaler Aluminiumfolie, die das Bild des Universums aus nur einem Element existierend simuliert. Ein geschlossenes System (“Tiny Bubble of Complexity”, 2001) generiert in Reaktion auf sich selbst unendlich viele Farben; eine Skulptur, die mit Planetengesteinen bestückt ist, kreist träge um sich selbst. Unvorstellbare Massen von Gruppierungsmöglichkeiten bietet “Night in a Billion”, 2001. Die Ansicht von Sternenkonstellationen besteht aus zwölf individuellen Aquarellblättern, die in mehr als vierhundert Millionen Kombinationen Himmel erzeugen können.
Auch “Random Tangler (Recursive Transition Knot)”, 2001, erzeugt endlose Variationen: Die Arbeit ist ein Spiel, das von beliebig vielen Akteuren gespielt werden kann und das wie die von Keith Tyson bereits bekannten “Art Machine” Arbeiten eine sprachliche Definition für eine Arbeit liefert, die von den Spielern hergestellt werden soll. Systematik und Freiheit, Zufall und Absicht, autorenlose Definition und individu-elle Interpretation generieren mit diesem Spiel die Gleichzeitigkeit von allen denkbaren Stilen und Erscheinungsformen von künstlerischen Werken. Bezogen sich seine computergestützten “Art Machine” Arbeiten auf ein potentiell unendliches Informationsnetz von Internetressourcen, handelt die Spielbox des “Random Tanglers” vom potentiell unendlichen Netz individueller Subjekte und den Variationen, Trans-formationen und Spielarten, die das Zusammenspiel von “Systemen”, die wir subjektiv oder objektiv benennen würden, erzeugen kann. Zwei weitere Arbeiten der Ausstellungen lassen ebenfalls das System “Mensch” vor der Landschaft des Systems “Realität” zentral werden: “Now Capacitor (Mirror)”, 2002, und “AMCHII – Angelmaker Part 1 (15 Seconds before the Apocalypse, 100 Views)” von 1999 zeigen und machen Zeit erfahrbar: Die kürzeste Zeitspanne des Gehirns zur Registrierung eines Bildes ist ein hundertstel einer Sekunde. Eine Digitaluhr im Spiegel des “Now Capacitors”, in dessen Reflexion man selbst zum Bild wird, zählt die durchschnittliche menschliche Lebensdauer von 76.5 Jahren in diesen Sekundenschritten, während das Video “Angelmaker” die imaginierten Bilder des Individuums nach Aussen trägt. Denken denken und sehen.