Carol Bove
Die 1971 in Genf geborene Künstlerin Carol Bove markiert mit der Vernissage ihrer ersten Einzelausstellung in einer Schweizer Institution auch die neue parallele Ausstellungstätigkeit der Kunsthalle Zürich.
Wir haben die Sequenz unserer Ausstellungsräume um einen zusätzlichen Raum ergänzt. Dieser Extraraum soll einer Ausstellungspraxis Platz bieten, die mit unterschiedlichen Formaten einen Kontrapunkt im Ausstellungsprogramm entwickeln kann. Jüngere schweizerische wie internationale künstlerische Positionen sollen darin ebenso ihren Ort finden wie kleinformatigere Ausstellungsprojekte, Filmpräsentationen und performative Events.
Ganz bewusst nennen wir die erweiterte Ausstellungstätigkeit der Kunsthalle nicht unseren „Projektraum“. Wie mit der Ausstellung von Carol Bove, kann ein solches Ausstellungsprojekt auch einmal zwei unserer Räume umfassen. Der neue „Raum“ der Kunsthalle Zürich versteht sich als experimentelles Feld, das das Publikum an den zahlreichen und vielfältigen Nebenbewegungen teilhaben lassen will, die einen Ausstellungsbetrieb und die Programmierung einer Institution ausmachen. In einem zunehmend beschleunigten Ausstellungspraxis von Kunsthallen und Institutionen allgemein erhoffen wir uns durch das Paradox des kurzfristigeren Programmierens eine Verlangsamung, da diese „Nebenbewegungen“ Anteil nehmen lassen an der Kontinuität einer Auseinandersetzung mit den Entwicklungen, Diskursen und auch Widersprüchen aktuellsten künstlerischen Schaffens. Eine Kontinuität, die gegebenenfalls durch Wiederholung der Zusammenarbeit in einem anderen Format Vertiefung erreichen kann. Wir planen Kooperationen mit einem internationalen Denkfeld sowohl durch Künstlerinnen und Künstler wie durch Gastkurationen und andere Formen inhaltlicher Gastpräsenzen.
Carol Bove, die in New York lebt und arbeitet, hat ihr künstlerisches Schaffen in einer gross angelegten Recherche auf die Befragung, Aktualisierung und Vertiefung der Gesellschaftsgeschichte und Kunst der späten 60er bis frühen 70er Jahre des 20. Jahrhunderts konzentriert. Ihr Interesse gilt dabei in gleicher Weise der populären Literatur und den populärsten avantgardistischen Magazinen dieser Zeitperiode, wie ihrer Architektur, der Musik, Kunst und dem Design. Für sie markieren sie die einflussreichen und nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen dieser Zeit, wie sie unter anderem in der Frauen- und Friedensbewegung, den Vorstellungen einer befreiten Sexualität und der Befreiung des Individuums durch psychische wie physische Praktiken der Bewusstseinserweiterung zum Ausdruck kommen.
Carol Bove kreiert in ihren Ausstellungen atmosphärisch aufgeladene Installationen mit Artefakten und nachempfundenen Gestaltungen, die Stil und Geschichte reflektieren, transportieren und diese auf ihre aktuelle Gültigkeit hinterfragen.
Bücherstapel der periodisch in Antiquariaten auftauchenden Populärliteratur dieser Zeit («Touching», 2003) finden sich neben kunstvoll gestalteten Assemblagen aus Fotografien und Büchern mit gefundenen oder nachempfundenen Möbeln der Zeit. Für die Hippiezeit prägende Originalausgaben von populären Magazinen kontrastieren mit von der Künstlerin aus einflussreichen Büchern auf altmodischen Schreibmaschinen abgetippte Textpassagen, und wie verblasst wirkende Tuschearbeiten weiblicher Akte, deren Vorlagen aus Magazinen wie Playboy, Hustler oder Life stammen, hängen neben „Wandgemälden“, die die Künstlerin in Referenz an Sol LeWitt akribisch handwerklich aus Faden gefertigt hat.
Carol Bove bezeichnet sich als eine Anthropologin, die autobiografische Erlebnisse mit allgemeingültigen sozialen Gegebenheiten kombiniert und in neue Beziehungssysteme überführt. 1971 geboren, erschien der Künstlerin das Lebensumfeld ihrer Mutter in den 60er und frühen 70er Jahren interessanter, aufregender, utopischer als ihre eigenes jetziges gewesen zu sein, und die zunächst biographisch initiierte Auseinandersetzung entwickelte sich für sie zunehmend zu einer Recherche der Gedankenwelten und Artefakten, die historischer Amnesie und oberflächlicher Kenntnis entgegenwirken soll.
Carol Bove geht in ihrer Arbeit von der Erfahrung aus, die man in einem Museum machen kann, wenn man Objekten begegnet, die unser Interesse wecken, über deren Bedeutung, Umfeld und Realität wir aber nur Ungefähres oder „Mythisches“ wissen. Das Initial des Interesses, das Verlangen nach einer vertieften Kenntnis und einer „Zeitreise“, übersetzt sie in ihren Installationen in Displaysituationen sowohl mit einer für sie typischen Ästhetik wie mit der künstlerischen Praxis der „institutionellen Kritik“, die sich seit den achtziger Jahren mit Präsentationsformen von Kunstobjekten im Kunstkontext auseinandersetzt und Fragen nach Gestaltung, Dekoration und historischer Kontinuität beinhaltet.
Titel wie „Utopia and Oblivion“, „Experiment in Total Freedom“ oder „The Look of Thought; The Ways of Love“ entwickeln in ihren Installationen zusätzlich zu den Buch- und Magazintiteln, die wir lesen können, ein gedankliches Umfeld, das Ambivalenzen und Utopien dieser Zeitperiode präsent sein lassen; eine Periode, die Carol Bove als unvollendetes Projekt bezeichnet, das prägend für unsere jetzige Gegenwart ist.
Historische Recherche ist bei Carol Bove sowohl eine Zeitreise wie im Sciencefiction des amerikanischen Autors Colin Wilson, in dessen Buch „The Philospher’s Stone“ Kontakt mit anderen Zeiten durch historische Objekte aufgenommen werden kann, wie auch zugewandte, zuweilen als erotisch zu bezeichnende Annäherung an die Gestaltungen und Gedanken dieser spezifischen Zeitperiode durch aktiven, das heisst hier künstlerischen Nachvollzug. Dies wird besonders deutlich in den zahlreichen Akt-Tuschezeichnungen, die die Künstlerin nach Magazinvorlagen der Zeit anfertigt: In ihren klassische Schönheit ausstrahlenden, beinahe verschwindenden Akten transportieren sich ambivalente Inhalte sowohl ihrer Original-Referenzzeit wie des Heute. Darstellungscodierungen einer autonomen Selbstbestimmtheit wie sexuellen Selbstbewusstheit der meist weiblichen Akte sind durchwirkt mit Darstellungscodes einer Objekthaftigkeit der Frauen in den herbeigezogenen Magazinen. Und dennoch behaupten die Transparenz und Flüchtigkeit der Darstellungen Carol Boves eine revidierte Wahrnehmung nicht nur von bekannten Klischees, sondern auch von Mythen, die sich um unsere kulturellen Entwicklungen und Errungenschaften ranken mögen.
Die Kunsthalle Zürich dankt: Präsidialdepartement der Stadt Zürich
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