Tris Vonna-Michell
Auto-Tracking
In zwei parallelen Einzelausstellungen stellen Tris Vonna-Michell (geb. 1982, lebt und arbeitet in London und Berlin) und Mario Garcia Torres (geb. 1975, lebt und arbeitet in Los Angeles) Arbeiten vor, die in ihrer jeweiligen Art und Weise um Erzählungen, Geschichte und Geschichten und das Verhältnis von Fiktion und Realität kreisen. Die Werke beider Künstler reflektieren die Möglichkeiten, wie Geschichte überliefert wird, welche Fakten und Artefakte dem Wahrheitsgehalt von Geschichte dienen und welche Rolle das Individuum mit seinen Emotionen und seinem Intellekt in der Produktion und Rezeption von Geschichte einnimmt.
Tris Vonna-Michells Sprechperformances und heterogene Bildmaterialien sind Beschleunigungen eines andauernden Prozesses von Geschichtsschreibung; sie bilden geben vielleicht gerade in ihrer obsessiven Absurdität einen Anhaltspunkt, wie Geschichte verborgene Geheimnisse entlockt werden können. Mario Garcia Torres strapaziert in bewussten Wiederholungen die Bedeutung der Produktion von Realität und historischen Fakten in der Kunst. Seine Arbeit nimmt ihren Ausgangspunkt in den so genannten subjektiven künstlerischen Setzungen und diskutiert in poetischen Figuren um das geschichtliche Kunstwerk das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität und gesellschaftlicher Produktivität und faktischer Nicht-Produktion für eine kollektive Geschichte.
Tris Vonna-Michell erzählt Geschichten und Geschichte von Orten, Personen und möglichen Konstellationen, die ihn persönlich betreffen, seine Aufmerksamkeit oder eine Frage bei ihm erweckt haben. Alles, Teile oder Nichts können in seinen Geschichten faktisch wahr sein – sicherlich aber kreiert er in atemberaubend schnellen Sprechperformances, umgeben von Diaprojektoren, Aufnahmegeräten, Fotografien, Fotokopien, Artefakten und Ephemera eine Realität, die historische Fakten und Fiktionen in eine Vielzahl möglicher Geschichten verwebt. Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichten jedoch liegt einzig in der prozessualen Offenlegung der Produktion von Sprache und der aktuellen Realisierung durch die Person des Künstlers. Die Tradition der mündlichen Überlieferung (Oral History) aufgreifend, erweitert Tris Vonna-Michell diese zugleich mit permanent sich ändernden Erzählweisen und der literarischen Tradition des spontanen Redeflusses der Erzählfigur (Stream of Consciousness) – sie sind also Performance und mentaler Prozess zugleich.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in den Aktionen von Tris Vonna-Michell ist der der Intimität: Er spricht nur zu einer begrenzten Anzahl von Menschen – den Besuchern seiner Ausstellung oder den Empfängern von Telefonanrufen, die der Künstler an bestimmte Orte sendet. Seine Geschichten und Mitteilungen sind dabei sowohl strukturiert als auch spontan, da er Erzählfluss, Dauer und Verlauf von seinem Publikum direkt beeinflussen lässt. In Seizure (2003-2007) sucht Tris Vonna-Michell nach Zusammenhängen in den Biographien und Geschichten von drei Personen – Reinhold Hahn, Reinhold Huhn und Otto Hahn – im Nachkriegs-Berlin. In langen Recherchen, die ihn in Museen, zu Monumenten und Gebäuden führten, findet der Künstler Verbindungen, die er in seine eigene Geschichte einbaut und auf dem Weg der Erzählung immer wieder in die Absurdität entführt. Ausgestattet mit einem Eierkocher bat er das Publikum anfangs um dessen Aufmerksamkeit. In der nun in Ausstellungen gezeigten Installation führen Dias, Artefakte, Tonaufzeichnungen und diverse Gegenstände in die Geschichte selbst, aber immer wieder auch auf Holzwege und Abweichungen ihrer logischen Entwicklung.
Die Arbeit Puzzlers (2005-2007) beruht auf einer zweijährigen Recherche, die ihren Ausgangspunkt in einer Zeitungsmeldung über die umfassende Vernichtung von Stasiakten in Deutschland im Herbst 1989 nimmt. Tris Vonna-Michell reiste mit dem Archiv seiner eigenen Kindheitsfotos nach Leipzig, zog, ausgestattet mit Schere und Kleber, in eine Plattenbauwohnung und demontierte seine eigenen Fotografien, um in der Art der „Puzzler“, wie Geheimdienstagenten nicht nur in der DDR genannt wurden, mit den Fragmenten seiner realen Vergangenheit eine fiktionale neue Identität in Bildern und Worten zu kollagieren.
Die neue, während der Ausstellung sich noch weiter entwickelnde Arbeit Auto-Tracking (2008), entstand in Detroit, der ikonischen Ruine der modernen Industrialisierung. Der Künstler hat Bildmaterialien zu einer mehrere Erzählstränge verknüpfenden Geschichte zusammen getragen. Über eine Telefonstation wird Tris Vonna-Michell regelmässig mit dem Publikum Kontakt aufnehmen und mündlich aus Berlin nicht nur die Geschichten entwickeln, sondern auch zwei Ausstellungsorte, die Kunsthalle Zürich und die Berlin Biennale, verbinden. In einer archivähnlichen Aufnahmestation in der Ausstellung sammeln sich die parallelen und in diverse Richtungen führenden Erzählungen und bilden den Grundstock für ein gross angelegtes Projekt, das 2009 in einer einmaligen Performance in der Kunsthalle Zürich Gestalt annehmen wird.