Walid Raad
Miraculous Beginnings
Welche Formen, Geschichten, Gesten und Konzepte werden durch Kriege ermöglicht? Wie kommt es, dass gewisse Ereignisse erlebt, aber nicht durchlebt werden? Wie werden Kunst, Kultur und Traditionen auf materielle aber auch immaterielle Weise von Gewalt beeinflusst? Das Werk des 1967 in Chbanieh, Libanon, geborenen Künstlers Walid Raad, der zur Zeit in New York lebt, arbeitet und lehrt, kreist seit 20 Jahren um diese Fragestellungen und umfasst Fotografie, Video, Plastik, Installation und Performance.
Walid Raad gilt als eine der bedeutendsten Figuren einer jüngeren Künstlergeneration aus dem Nahen Osten. Die Ausstellung «Walid Raad – Miraculous Beginnings», die in Zusammenarbeit mit der Whitechapel Gallery in London organisiert wurde, zeigt in einer breit angelegten Übersicht Arbeiten der letzten 20 Jahre und schafft Einblick in ein Werk, das das Verständnis von Dokument, Fakt und Fiktion in Film, Fotografie, Video, Performance, Geschichte und Kunstgeschichte kritisch auf die Probe stellt. «Walid Raad – Miraculous Beginnings» versammelt die umfassende Werkgruppe von Fotografien und Videoarbeiten, die der Künstler mit The Atlas Group produzierte – seinem fiktiven Projekt über die libanesischen Kriege –, sowie das jüngste Projekt Scratching on Things I Could Disavow: A History of Art in the Arab World (2008–fortlaufend), eine provokative Untersuchung des Künstlers über die Gegebenheiten, Geschichten und Formen, die durch den jüngsten Kunstboom im Nahen Osten ermöglicht wurden.
Für die Präsentation des visuell wie physisch umfangreichen Werkes in der Kunsthalle Zürich im Museum Bärengasse wurde ein freistehendes Wandsystem entwickelt, das das Theatralische musealer Präsentationsformen thematisiert und den werkimmanenten Aspekt der Mise-en-scène unterstreicht.
The Atlas Group (1989–2004)
Die Werkserie The Atlas Group wurzelt in den Erfahrungen Walid Raads im Libanon der letzten vierzig Jahre und widmet sich hauptsächlich der Erforschung und Dokumentation der libanesischen Kriege der vergangenen Jahrzehnte. Das dazugehörige Archiv The Atlas Group Archive bewahrt audiovisuelle, fotografische, literarische und andere Dokumente in drei Kategorien auf: [cat. A] – einem identifizierbaren Individuum zugeschriebene, [cat. FD] – aufgefundene und [cat. AGP] – The Atlas Group zugeordnete Dokumente. Raads Archiv enthält aber nicht Kunstwerke, die unmittelbare Bilder von dem vermitteln, was während des Krieges passiert ist, sondern es werden vielmehr Geschichten und Formen präsentiert, die in Verbindung stehen zu dem, was über Kriege gesagt, gedacht oder imaginiert werden kann. Einige The Atlas Group-Akten sind fiktiven Figuren zugeschrieben, andere historischen, so dass zusätzlich Fragen nach der Auffassung von Zeugenschaft im Kontext des Libanonkrieges aufgeworfen werden. Mit The Atlas Group sucht der Künstler nicht nach politischer oder historischer Wahrheit, sondern richtet sein Augenmerk auf politische, soziale, ökonomische sowie narrative, emotionale und ästhetische Fakten. Wie beispielsweise die Akte von Dr. Fadl Fakhouri, einem berühmten libanesischen Historiker: Sie fand 1991 Eingang ins The Atlas Group Archive und enthält 226 Notizbücher, 2 Super-8-Kurzfilme und Fotografien. Das darin enthaltene Dokument Notebook volume 72: Missing Lebanese wars (1989) erzählt die Geschichte eines ungewöhnlichen Glückspiels, das von Historikern unterschiedlicher Konfessionen und politischer Gesinnungen erfunden wurde, die sich sonntags an der Pferderennbahn zu treffen pflegten: Die Historiker „überzeugten“ die offiziellen Fotografen, das Siegerpferd ausschliesslich beim Eingang ins Ziel zu fotografieren und wetteten, um wie viele Sekundenbruchteile vor oder nach der Ziellinie diese den Auslöser drücken würden. Die Notizbücher von Dr. Fakhouri enthalten die finalen Fotografien, die in der Beiruter Tageszeitung An-Nahar erschienen sind sowie unterschiedliche Notizen Dr. Fakhouris. Die Notizbücher scheinen aber auch das zeitliche „Versäumnis“, beim Verrinnen der Gegenwart (nicht) rechtzeitig zugegen gewesen zu sein, und ein affektives „Vermissen“, das die Sehnsucht des Krieges charakterisiert und seine Geschichtsschreibung bestimmt, aufzuzeigen. Ebenfalls der Fakhouri-Akte zugehörig sind die Super-8-Filme Miraculous beginnings und No, illness is neither here nor there. Miraculous beginnings dokumentiert die Angewohnheit Dr. Fakhouris, immer dann eine Einzelbildaufnahme zu machen, wenn er den Bürgerkrieg für beendet hielt, egal, wo er sich gerade befand; das zweite Video enthält die filmische Einzelbilddokumentation von Namensschildern plastischer Chirurgen, Psychiater, Orthopäden und Zahnärzte, denen er während seiner Streifzüge durch Beirut begegnete. Die beiden Dokumente berichten von der grossen Sehnsucht nach einem Ende des Krieges, das immer wieder von Gerüchten genährt wird, wie auch von den tragischen Branchen der „Kriegsprofiteure“.
Aus der Werkguppe The Atlas Group sind in der Ausstellung auch folgende Fotoserien und Filme zu sehen: My neck is thinner than a hair: Engines (2001), Civilizationally, we do not dig holes to bury ourselves (1993), Let’s be honest, the weather helped (1998), Secrets in the open sea (1994), Hostage photos, Polaroids (2011) und Notebook volume 38: Already been in a lake of fire (1991).
Scratching on Things I Could Disavow: A History of Art in the Arab World (2008–fortlaufend)
Das zweite in der Ausstellung präsentierte Projekt trägt den Titel Scratching on Things I Could Disavow: A History of Art in the Arab World. Es greift das Entstehen einer umfangreichen Infrastruktur für Kunst im Nahen Osten und dessen Auswirkungen auf das künstlerische Schaffen in dieser Region auf. Das Aufkommen neuer Kunstmuseen, Galerien, Schulen und kultureller Einrichtungen in Städten wie Abu Dhabi, Amman, Beirut, Kairo u. a. beobachtet Walid Raad mit Faszination. Die Bauten von international renommierten Architekten – z. B. das bis dato grösste Guggenheim Abu Dhabi Museum von Frank Gehry, ein Abu Dhabi Louvre Museum von Jean Nouvel oder das Performing Arts Centre von Zaha Hadid, allesamt lokalisiert auf der „Insel des Glücks“ Saadiyat Island in Abu Dhabi – sind die sichtbarsten Symptome dieser aufkommenden Infrastruktur und in Raads Augen wie ein verzerrter Spiegel, durch den man sehen kann, wie die Kunst und die Kultur der arabischen Welt materiell und immateriell durch die unterschiedlichen Konflikte, die die Region im vergangen Jahrhundert verwüstet haben, beeinträchtigt wurden.
Das Herzstück des Projekts ist die Arbeit aus 2008 mit dem Titel Section 139: The Atlas Group (1989–2004), das Modell eines imaginären Museums, in dem eine Miniatur-Version der Arbeiten von The Atlas Group an den Wänden hängt. Mit dem Modell einhergehend gibt es eine Erzählung des Künstlers, wonach die Einladung der Galerie Sfeir-Semler, die erste White-Cube Galerie in Beirut, zur Präsentation von The Atlas Group damit konfrontierte, dass jedes einzelne seiner Werke auf 1/100 der Originalgrösse schrumpfte. Zudem wird das Modell u. a. von quasi monochromen Bildtafeln (Appendix XVIII: Plates 24-151, 2009) begleitet, deren Farben, Linien und Formen von Briefköpfen und/oder Ausstellungskatalogen entliehen sind und zur Kontaktaufnahme mit Kunstwerken und Künstlern aus der Vergangenheit und der Zukunft dienen. Das Section 88: Views from Outer to Inner Compartment (2010) betitelte Video schlägt Ansichten von Ausstellungräumen vor, wo wohl Kunstwerke hängen, aus unerfindlichen Gründen aber nicht sichtbar sind.
Die Kunsthalle Zürich dankt: Präsidialdepartement der Stadt Zürich, Swiss Re, Luma Stiftung, Hulda und Gustav Zumsteg-Stiftung