Yüksel Arslan
Artures
Der türkische Künstler Yüksel Arslan (geboren 1933, lebt und arbeitet in Paris) blieb bis vor kurzem einem breiteren Publikum unbekannt. 1962 verliess der damals in Istanbul lebende Arslan seine Heimat und liess sich in Paris nieder, wo er seitdem in seiner Wohnung ein bildnerisches Werk in und aus der Rezeption kultureller, soziologischer, philosophischer und künstlerischer Literatur generiert. Mit der Ausstellung in der Kunsthalle Zürich wird erstmals eine Werkauswahl von über 200 Papierarbeiten seit 1959 ausserhalb der Türkei präsentiert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den sogenannten Artures, Malereien auf Papier, die in einer einzigartigen Technik mit speziellen Farben angefertigt sind und sich durch eine Expressivität auszeichnen, die schon Eugène Delacroix als typisches Charakteristikum dem Orient bzw. dem Nahen Osten zuschrieb. Inhaltlich setzen sie sich mit dem Verhältnis von Denken und Mystik, von Mythos, Wissenschaft, und bildender Kunst auseinander und greifen philosophische, literarische und musikalische Strömungen auf, die man als Grundlage des westlichen Denkens bezeichnen könnte, wohlwissend, dass die hier verankerte Erkenntnis ohne die Erfahrungswerte anderer Völker und Kulturen kaum zustande gekommen wäre.
Es sind keine klassischen Farben, die Arslan für seine Malerei verwendet. Vielmehr mischt er Pigmente mit unterschiedlichen pflanzlichen Extrakten, Körperflüssigkeiten, weiteren natürlichen Elementen (z. B. Blüten, Gras) und zusätzlichen Substanzen wie Öl, Kohle, Steinen und anderen. Dieser Produktionsprozess ist wichtiger Bestandteil der Bildfindung und stellt keine separate Vorbereitung der eigentlichen künstlerischen Arbeit dar. Arslans Ansicht nach wurden in der Malerei seit der Moderne – spätestens mit dem Einzug der industriell erzeugten Farben – die Ursprünge immer mehr vernachlässigt. Ähnlich wie Jean Dubuffet bemüht sich der Künstler, den Ballast der Gegenwart abzuwerfen, um so das „Eigentliche“ herauszukristallisieren. Nur der Weg über scheinbar mittels der Kultur Überwundenes, in Wirklichkeit durch sie aber nur Verstelltes, lässt Arslan das Ursprüngliche wiederfinden – so zum Beispiel Fortpflanzung und Sexualität. Da er sich mit alten und neuen Sprachen, Geschichte, Philosophie, Musik und alten Kulturen beschäftigt, ist ihm der kulturelle „Ballast“ vertraut. Arslan ist zu der Erkenntnis gelangt, dass hiervon vieles dem eigentlichen Wesen des Menschen nicht entspricht und spürt dabei Ähnlichkeiten des Volkstümlichen in den Ursprüngen der Kulturen in allen Erdregionen auf.
Arslans Artures entstehen in Werkgruppen, die gesellschaftsrelevante Themen und Fragestellungen vereinen wie auch die eigene Biografie betreffende Erfahrungswerte thematisieren. Die drei Zyklen mit den Titeln L’Homme I – III, Le Capital sind allgemein angelegt, während die beiden Serien Influances I & II für die Beschäftigung des Künstlers mit Persönlichkeiten und ihren Errungenschaften stehen, die für seine Auseinandersetzung eine Relevanz besitzen und seine grosse Affinität zu Literatur und Musik hervorheben. So entstanden Arbeiten unter anderem zu Johann Sebastian Bach, Charles Baudelaire, Samuel Beckett, René Descartes, Sigmund Freud, Franz Kafka und vielen anderen. In der Serie Autoartures behandelt Arslan ausschliesslich biografische Ereignisse: familiär geprägte Erinnerungen und seine Herkunft – die Auseinandersetzung mit der eigenen Ursprünglichkeit.
Mit dem Begriff der Ursprünglichkeit wird häufig der Begriff des Mythos in Verbindung gebracht. Viele Werke ähneln in ihrem Aufbau und der Verwendung von Text und Bild zunächst wissenschaftlichen Tafeln und Klassifizierungen, zum Beispiel Arture 439, L’Homme 80 (1992), Arture 463, L’Homme 104: Schizophrénies (1996) oder Arture 467, L’Homme 108: Schizophrénies (1996). Aus dieser Auseinandersetzung leitet sich für ihn die andauernde Aktualität von Archetypen und Mythen her: Sie sind Formen ursprünglicher Ordnungsbilder, die den Menschen noch im Einklang mit der Natur zeigen. Diese Vorstellungen gründen mithin auf etwas anderem als die Natursehnsucht romantisierender Empfindsamkeit. Worauf Arslan abzielt, ist die ursprüngliche Einheit im Kreislauf alles Kreatürlichen, wie beispielsweise bei Arture 362, L’Homme III (1986) und Arture 378, L’Homme XIX: Course de spermatozoïdes (1987). Symbolisiert wird diese Einheit unter anderem im Bild von Tier, Mensch und Landschaft. Das „Tier-Sein“ ist seiner Ansicht nach schicksalhaft in den Rhythmus von Geburt, Dasein und Tod gestellt und aus dem zufällig Einzelnen ins Allgemeingültige übertragen. So wird das Tier für Arslan häufig zum innerlich gesuchten Partner des Menschen, die Begegnungen sind nicht feindlich, sondern Naturereignisse wie Wind, Gewitter, Blitzschlag, Flammen und Entladung. Analog zu diesem Verständnis interessieren ihn Eigentümlichkeiten der Landschaft weniger im topografischen Sinn denn als Ausdruck verborgener Kräfte. Zugleich erscheinen sie als ursprüngliche Chiffren, die ein Wechselverhältnis jeder irdischen Begebenheit ausdrücken. Das Ursprüngliche ist bei Arslan das noch nicht Getrennte.
Nicht erst seit Claude Lévi-Strauss wissen wir, dass der Mythos ein Ordnungsgefüge eigener Art und Struktur darstellt und mithin keineswegs eine vorwissenschaftliche Entwicklungsstufe auf dem historischen Weg zur theoretischen Begrifflichkeit. Wir vergewissern uns des Mythos als einer Form der Welterklärung im Allgemeinen, in der über die Analogie alles mit allem zusammenhängt, der zufolge auch die Dinge nicht bloss leblose Objekte, sondern eingefügte Teile einer allumfassenden Ordnung sind und als solche jeweils bestimmte Qualitäten repräsentieren. Dem Mythos entgegengesetzt bedeutet das rationale und funktionale Denken notwendig Kritik am Mythos und bewirkt schliesslich die Auflösung einer derart repräsentierten Ganzheit: An die Stelle einer unmittelbaren Erlebnisfülle tritt das wissenschaftliche Prinzip der Vereinzelung und der Klassifizierung, oder: Kausalität statt Sinngebung. Beispielhaft seien hier die Werke zu Gestik, Schizophrenie oder Halluzinationen genannt: Arture 381, L’Homme XXII: Névrotiques (1988) und Arture 385, L’Homme XXVI: Hallucinations (1988). Bei aller notgedrungenen Verkürzung des Sachverhaltes zeigt diese Formel gleichwohl, dass wissenschaftliche Erkenntnis stets auch mit einem gewissen Verlustempfinden gekoppelt ist. Arslan verdeutlicht diesen Aspekt. Er zeigt dabei auch auf, dass es Ursprünglichkeit nur aus der Sicht der Fortschrittsposition geben kann: Vereinzelung bleibt ein leeres Wort ohne die Vorstellung des Ganzen. In Korrelationen dieser Art scheint somit ein bereits Vergangenes, ein Überwundenes auf. So findet die wechselseitige Bedingtheit von Ursprünglichkeit und Fortschritt gewissermassen eine anschauliche Entsprechung in der Dialektik des Traditionsbruchs der Moderne.
Die Ausstellung entsteht als Zusammenarbeit zwischen Beatrix Ruf und Oliver Zybok und wird im Anschluss in der Kunsthalle Düsseldorf und in der Kunsthalle Wien zu sehen sein.