Wolfgang Tillmans
Neue Welt
Die erste Ausstellung in den neuen und renovierten Räumlichkeiten der Kunsthalle Zürich im Löwenbräukunst-Areal widmet sich dem Wiedersehen mit einem Künstler, der 1995 in der Kunsthalle Zürich seine erste institutionelle Ausstellung überhaupt präsentierte. Seit dieser Zeit hat Wolfgang Tillmans (geboren 1968 in Remscheid, lebt und arbeitet in Berlin und London) mit seinen Fotografien und Videos die Möglichkeiten der Fotografie auf vielfältigste Weise ausgetestet und erweitert. Die Ausstellung «Neue Welt» zeigt Arbeiten aus der neuesten, auf vielen Reisen entstandenen, gleichnamigen Werkgruppe zum ersten Mal in einer umfassenden Schau zusammen mit abstrakten Arbeiten.
Die Auseinandersetzung mit dem Bild, die Frage, wie Bedeutung auf einem Stück Papier entsteht und damit, wann ein Bild überhaupt zu einem Bild wird, steht für Wolfgang Tillmans im Zentrum seines Schaffens. Seine Fotografien reichen von Porträts, Stillleben, Landschaften, Himmelsaufnahmen, über subkulturelle Szenerien und solche der Warenzirkulation, Räumlichkeiten des Wohnens und des Transits bis hin zu abstrakten, mediumreflexiven Bildern und eröffnen einen vielstimmigen visuellen Diskurs über Anliegen, welche die heutige Welt im Ganzen betreffen. Bereits mit seinen frühen Arbeiten hat Tillmans Anfang der 1990er Jahre die Möglichkeiten der Fotografie mit berühmt gewordenen Aufnahmen seiner Freunde und Einblicken in die Londoner und internationale Club- und Musikszene erweitert. Sein engagierter und persönlicher Blick auf das soziale wie politische Weltgeschehen ist gleichzeitig auch ein intimer Blick auf das menschliche Leben und die Schönheit des Alltäglichen.
Seit Beginn seines künstlerischen Schaffens befasst sich Wolfgang Tillmans auch mit den Grund- und Produktionsbedingungen des Mediums Fotografie. Vor allem in den letzten zehn Jahren entstanden abstrakte Arbeiten, deren Herstellung nicht mehr an die Kamera gebunden war. Sie zeigen Lichtspuren auf dem Fotopapier (vor allem in den Freischwimmer- und Blushes-Serien) oder sind chemische und mechanische Bearbeitungen des lichtempfindlichen Materials wie in den Bildern der Silver-Serie. Die seit 1998 entstehenden Silver-Arbeiten reflektieren die Reaktion des Fotopapiers auf Licht sowie mechanische und chemische Prozesse. Der Name Silver rührt von Schmutzspuren und Flecken von Silbersalzen her, die auf dem Papier zurückbleiben, nachdem der Künstler das Papier in einer mit Wasser gefüllten, nur bis zu einem bestimmten Grad gereinigten Maschine entwickelt hat. Die visuelle Erscheinung der Ablagerungen auf dem Fotopapier werden dabei durch einen durch die Fototechnik produzierten Zufallseffekt bestimmt, der den Entstehungsprozess und die Materialität von Fotografie offenlegt. Ebenfalls zu den abstrakten Arbeiten zählt die Lighter-Serie. In den durch Knickungen oder exakten Faltungen manipulierten Fotoprints wechseln sich makellose, glatte mit fehlerhaften Oberflächen ab, so dass das Fotopapier zu einem faszinierenden dreidimensionalen Objekt wird.
Auf den Blick nach innen und die Möglichkeiten einer reinen Studiopraxis folgt nun erneut der Blick nach aussen. Zwanzig Jahre nachdem Wolfgang Tillmans angefangen hat, sich ein Bild von der Welt zu machen, fragt er sich, ob die Welt in einer Zeit der medialen Bilderflut „neu“ gesehen werden und sich ein Sinn des Ganzen ergeben kann. Das „Neue“ sucht Tillmans aber nicht nur im Hinblick auf die politischen und ökonomischen Veränderungen, sondern auch in Hinblick auf die digitale Weiterentwicklung der Fotografie, deren Auflösungspotential mittlerweile Details in einer Schärfe darzustellen vermag, die dem menschlichen Auge und dem menschlichen Sehen eigentlich nicht mehr entsprecht. Da das Auge aber mittlerweile an HD-Standards gewöhnt ist, kommt die hohe Auflösung einer neuen gefühlten Wahrnehmung gleich. Mit einer Digitalkamera ausgerüstet reiste Tillmans von London über Nottingham bis Tasmanien, über Äthiopien, Saudi-Arabien, Indien, China, Papua-Neuguinea, Australien, Argentinien bis nach Chile, wo er sich jeweils nur kurze Zeit aufhielt – gerade so lange, um sich intensiv auf die sichtbare Oberfläche der jeweiligen Situation einzulassen: „Die Oberfläche, auch die Oberflächlichkeit hat mich schon immer interessiert, weil wir die Wahrheit der Dinge im Grunde anhand der Oberfläche der Welt ablesen müssen.“ (Wolfgang Tillmans) So sind es auch immer wieder Verkleidungen, Verschalungen oder Fassaden, die in seinen Fotografien neben Themenkomplexen aus Technologie oder Wissenschaft wie Pflanzen, Tiere, Materialablagerungen, Transportmittel, Flughäfen oder Einkaufszentren zu sehen sind. In einer Tiefgarage in Hobart, Tasmanien, ist eine Serie von Fotografien von Autoscheinwerfern entstanden, deren Entwicklung Tillmans in den vergangenen Jahren aufgefallen ist. In den Scheinwerfern, in diesen komplexen, hochtechnisierten Lichtskulpturen sieht der Künstler ein Sinnbild globaler Technologiefantasien.
Diesen Bildern vom weltweiten Voranschreiten von Wissenschaft, Technologie und Warenverkehr und ihren die verschiedensten Gesellschaften auf ähnliche Weise prägenden Einflüssen stellt der Künstler in der Kunsthalle Zürich seine jüngsten Silver-Arbeiten gegenüber. So formuliert er eine visuelle Begegnung von Aussenaufnahmen des gegenwärtigen Weltgeschehens und den auf rein mechanisch-chemischen Prozessen beruhenden Werken.
Mit der neuen Werkgruppe Neue Welt führt Wolfgang Tillmans seine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Erfassung der Welt fort. Bilder sind für Wolfgang Tillmans eine Übersetzung der Welt, in denen eine Erfahrung umgesetzt wird, denn „ein gegenständliches Bild formiert die Wirklichkeit vor unseren Augen, nicht mehr und nicht weniger“ (Wolfgang Tillmans).
Im Juli 2013 wandert die Ausstellung «Neue Welt», wiederum kuratiert von Beatrix Ruf, in einer Kollaboration zwischen der LUMA Foundation und den Les Rencontres d’Arles an das gleichnamige Fotofestival in Arles.