Boris Michajlov
Als letzte Ausstellung der Kunsthalle vor dem Umzug ins Löwenbräu-Areal wird das in fast 30 Jahren entstandene fotografische Schaffen des ukrainischen Künstlers Boris Michajlov gezeigt. Es basiert auf den geschichtlichen und sozialen Gegebenheiten der UDSSR und ihrer Nachfolgesituation, darin verwandt mit Ilya Kabakovs Werk, das 1989 in der Kunsthalle Zürich vorgestellt wurde. Seine Fotografien folgen in konzeptueller Weise dokumentarischen Methoden, die durch persönliche Interpretation ans Fiktionale grenzen, Gegenbilder zur gesellschaftlichen Norm schaffen.
Der private Umgang mit der Fotografie war in der früheren Sowjetunion, insbesondere in den 30er Jahren, tabuisiert und ein ganz anderer als im Westen, denn eine Kamera hatte offiziellen staatlichen Zwecken zu dienen. Michajlov verlor Ende der 60er Jahre seine Stelle als Ingenieur aufgrund der Tatsache, dass er Aktfotos gemacht hatte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er nun als Auftragsportraitist, was die Ausgangslage der Serie “Luriki" (1971-85) bildet. Er verfremdet anonymes Fotomaterial aus Familienalben durch süssliche Kolorierungen, wie er es auf Wunsch seiner Auftraggeber tat, schafft damit eine andere Form des kollektiven Gedächtnisses.
Boris Michajlov arbeitet in kleinformatigen, thematisch und farblich charakterisierten Serien, damit die Gültigkeit eines einzelnen Eindrucks und Bildes in Zweifel ziehend. Im Zentrum der Ausstellung stehen die umfangreichen Werkgruppen “Am Boden" (1991) und “Dämmerung" (1993). Sie halten - schnappschussartig aus Bauchhöhe aufgenommen und zugleich formal souverän und dicht - Strassenszenen aus Kiew und der Heimatstadt Charkov mittels einer Horizont-Kamera fest. Sie erweitert den Blickwinkel durch eine Streckung des Horizontes auf 120 Grad und betont so das Moment des Vorbeiziehens, der Bewegung. Die braune Tönung von “Am Boden" weckt Allusionen an Erde und Schmutz und verbindet das Jetzt im Sinne einer “parallelen historischen Assoziation" (Michajlov) mit dem vorrevolutionären Russland. Die blaue Tönung von “Dämmerung" wiederum bringt der Künstler nicht nur mit einbrechender Dunkelheit und Kälte, sondern auch mit Krieg, Hunger und Blockade in Verbindung. "Als ich diese Arbeiten gemacht habe, spürte ich Angst, und die stärkste Erfahrung dieser Angst ist der Höhepunkt des Lebens." Es sind transformierte Alltagsfragmente, die im Gesamtpanorama zum Historienbild werden, das im Gegensatz zum Sozialistischen Realismus nicht das heroisch ldealisierte fokussiert, sondern das Banale, Kränkelnde und Prozesshafte. Es verbildlicht die allgemeine und persönliche Befindlichkeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, gibt der emphatischen Auseinandersetzung mit Isolation und Verwahrlosung Ausdruck.
Daneben unternimmt Michajlov auch theatralische Selbstinszenierungen, setzt sich in der Serie “I am not l" in parodistischen wie melancholischen Aktposen in Szene.