Nicola Tyson
Nicola Tyson hat einige ihrer Malereien als Selbstportraits tituliert, so etwa das 1994 entstandene "Self-Portrait: School Uniform“. Vor hellem Braungrau spannt sich ein schwarzes Cape flügelartig auf und ummantelt eine zart nach innen gewendete Zurschaustellung des entblössten Körpers. Dabei nimmt eine hautfarbene Pflaumenform die Körper- und zugleich die Bildmitte ein. Ubergross und doch schwebend leicht, bringt sie wohl die Erinnerung an die Geschlechtsreife zum Ausdruck, die eine andere Selbstwahrnehmung hervorrief. Die Künstlerin legt offen, dass sie hier ihr eigenes Modell ist, aber letztlich sind alle ihre Figurationen Selbstdarstellungen, wenn auch nicht im Sinne des klassischen Selbstportraits. Das abgewandte, schemenhafte Gesicht betont die Introspektion, die Empfindung eigener körperlicher Zustände und Befindlichkeiten. Ihre Gestaltformen, die nicht vor absurder Physiognomie Halt machen, werden auch in anderen Malereien Teil einer farbfeldartigen Raumstruktur mit Anklängen an Interieur, Landschaft oder abstrakte Malerei.
Im Gegensatz zur kompakten Bildanlage und dem Farbsog ihrer Malerei steht der schmiegsame, bewegliche Gestus und die schlanke Transparenz ihrer Zeichnung. Die fast beiläufige Notation mit dem Bleistift kann die Reaktion auf die unsichtbaren, jedoch spürbar realen Körpersensationen in unmittelbarer Frische wiedergeben. Was sich im einzelnen Tafelbild komplex ineinanderblendet und sorgsam zu einem Istzustand aufbaut, huscht und quirlt über einzelne Zeichenblätter, die meist zu Sequenzen montiert sind. Von Blatt zu Blatt kann unvermittelt der Stil wie auch die inhaltliche Richtung wechseln. Ohne sich erzählerisch zu verfestigen, ergeben sich gleitende Ubergänge, überraschende Sprünge und Implosionen. Die Befragung des Selbst wird zur geradezu seismographischen Erforschung des eigenen Körpergefühls, die kritische Analyse und spielerisch-lustvolle Verve verknüpft. Oft sind es einfache Lineaturen, nur noch Umrisse oder Strichbündel, die die psychophysischen Wandlungen, Erstarrungen und Offnungen fassen. Naturgetreue Körperdarstellungen weichen vollends imaginären Wesen, die zwar menschliche Züge tragen, aber sich sackartig verfremden können, als äugende Geister oder Monster herumtollen oder zu Mischwesen mit Hasenohren oder Mäuseschnauzen auswachsen.
Tysons Phantome der Innenwelt nähren sich unzweideutig aus weiblicher Körpererfahrung und Sexualität, bleiben jedoch androgyn zwischen den Geschlechtern vermittelt. Die eigene Person wird zwar demonstrativ als Objekt der Untersuchung herangezogen, aber zugleich versteckt. Dem Enthüllen antwortet die Verkleidung, die Verhüllung und die Entgrenzung des Ichs. Uber eine fixierte Geschlechtsidentität und einen visuellen Realismus hinweg bildet der eigene Körper ein leiblicher Bezugspunkt zur Welt. Er ist weniger Ort narzisstischer Nabelschau, als vielmehr Ort einer zwar tastenden, aber konzentrierten und bildhaften Suche nach Selbsterkenntnis. Sie wiederum wird zum Modell der sensitiven Welterfahrung mit der Möglichkeit der Selbstbestimmung und der kritischen Distanznahme zu gesellschaftlichen Rollenzuweisungen.