Im Eingangsbereich des Hamlet Ausstellungsraums in Oerlikon, bei der Treppe, noch vor dem Aufzug des kleinen Hochhauses, ist ein Plastikschild auf die etwas abgenutzte Raufasertapete montiert:
Hybrid Place
Drive-In
Turn Right Then Wrong
Ein Schild, das so wirkt, als wäre es schon immer da gewesen und das sich, auf meine Nachfrage hin, als eine permanente Installation Jiajia Zhangs darstellt, deren Atelier sich auch in dem Gebäude befindet. Dass das Schild meinen Besuch der aktuellen Einzelausstellung der Künstlerin in nur drei Zeilen zusammenfassen wird, kann ich, in Oerlikon stehend, nicht wissen.
Ich bin zum ersten Mal im Kunstmuseum St. Gallen. Im Foyer des neoklassizistischen Hauses deutet ein buntes Café-Neonschild eine Rampe hinunter. Dort sei nicht nur das Café, sondern vor allem Jiajia Zhangs Einzelausstellung You Left Something Behind zu sehen, sagt mir eine Mitarbeiterin des Museums.
Ich folge dem Neon und bemerke auf halbem Weg rechts neben mir zwei verblichene quadratische Sessel in einer runden Auswölbung der Rampe, die von silbernem Stahlgeländer gefasst ist. Ein seltsamer Ort, denke ich. Ein seltsamer Ort, um sich gegenüber zu sitzen.
Später erfahre ich, dass die beiden Sessel eine unscheinbare Arbeit von Michael E. Smith aus der Sammlung des Kunstmuseums ist, die Jiajia Zhang mit in ihre Ausstellung integriert hat. Noch halb auf der Rampe bin also schon drin, drin in der Ausstellung, merke ich.
Ich lauf die Rampe hinunter auf ein grosses Ladenfenster zu, das an der Wand angebracht ist. Es ist beleuchtet und von innen mit leicht rosa farbenen Lamellen verdeckt. Darin liegt ein Schlüsselanhänger mit einem Herz, als hätte ihn jemand dort vergessen. Auf der Scheibe ein Schriftzug Area Conditionata und eine Tabelle von Zahlen. Vielleicht sind das Öffnungszeiten, denke ich.
Nachher lerne ich, dass es sich bei der Tabelle um einen Zeitplan aus Jiajia Zhangs Notizbuch handelt, der die Wach- und Fütterungszeiten ihres Babies dokumentiert und gleichzeitig darüber Auskunft gibt, wann die Künstlerin an dieser Ausstellung arbeiten, sich ausruhen oder einfach Zeit für sich selbst haben konnte. Unaufdringlich, in sanftem Rosa, erzählt mir das Ladenfenster Fenster (Script), 2023, von den Umständen seiner Entstehung. Die neue Rolle der Künstlerin als Mutter erscheint zum Einen als inspirierende Kondition und problematisiert den Zustand gleichzeitig als strengen Takt und kräftezehrende weibliche Realität im sowieso schon prekären Feld der Kunst. Ich mag den Sound, also den Sound wie dieses Fenster so leicht über sehr komplizierte Zusammenhänge spricht, denke ich.
Ich drehe mich herum und realisiere, dass ich offensichtlich in der Mitte der Ausstellung stehe. Von hier aus lassen sich irgendwie alle Räume einsehen oder zumindest bekomme ich eine Idee davon, was es wohl alles gibt. Dabei höre ich einen Fetzen von Chers «Believe» von irgendwo links, von rechts tönt eine männliche englische Stimme, klingt nach einer Lecture, denke ich, und ich höre die Sirene eines vorbeifahrenden Krankenwagens, während ich auf ein Becken neben der Rampe schaue, in dem Münzen und Papierschnipsel liegen wie in einem öffentlichen Brunnen ohne Wasser. Offensichtlich bin ich nicht drinnen, sondern draussen irgendwo in einer Stadt, glaube ich.
Ich schlendere in einen dunklen Eingang und stosse zuerst auf fünf weisse Plastikstühle aus deren Sitzfläche ein kleines Licht die rohe Betondecke des Raumes anstrahlt. Um die Ecke leuchtet die Projektion eines Videos, ich setze mich auf die Bank und ziehe die Kopfhörer über.
Eine Stimme sagt: What Are Master-Pieces and Why Are There so Few of Them? Gleichzeitig mittig, fett und weiss auf der Bildebene der Satz: What Are Influencers and Why Are There so Many of Them?
Der Erzähler redet, sich wiederholend, von Creation oder Identity oder Authenticity oder Memory oder Governments. Gleichzeitig sehe ich mit Handkamera gefilmte Bilder von Werbung im öffentlichen Raum für Handys, posende junge Menschen in der Stadt vor Brunnen oder Geschäften oder Schaufenstern, ich sehe Menschen vor Mode und modische Menschen, ich sehe fliessendes Wasser, Lichter, von Werbung angestrahlte klassizistische Architektur und oben auf den Bildern immer wieder mittig, fett und weiss, Sätze über Influencer wie:
Being authentically sad is a serious business.
Dem Erzähler zuzuhören, die Sätze auf dem Screen zu lesen, den Bildern zu folgen und gleichzeitig über Kunstwerke, Influencer und deren Zusammenhänge oder Nicht-Zusammenhänge, nachzudenken, ist irritierend und anstrengend.
In einer Art Abspann erscheint der Titel des neuen Films von Jiajia Zhang Social Gifts, 2023. Dabei gehört die Erzählerstimme Martin Burr, lerne ich, der Auzüge aus Gertrude Steins What Are Master-Pieces and Why Are There so Few of Them? liest. Ich schaue den Film drei Mal, versuche diesen sehr zeitgenössischen Zustand von Irritiertheit zu geniessen und wünsche mir gleichzeitig einen Influencer, die oder der mir sagt, wie ich mich aus dieser Condizione Irritante herauskonsumieren kann.
Ich stehe auf und trete wieder heraus in die Ausstellungsmitte. Erst jetzt sehe ich einen Wandtext zur Ausstellung, daneben ein QR Code. Ich scanne den Code mit meinem Smartphone, werde in ein Programm geleitet und dort gefragt, ob die App auf meine Kamera zugreifen kann. Ich bestätige und werde aufgefordert, ein Kunstwerk in der Ausstellung zu fotografieren. Ich schaue mich um und fotografiere eine Buntstift-Aquarell Zeichnung in einem Plexiglasrahmen, auf der unten rechts das angeschnittene Gesicht einer blonden Frau zu sehen ist. Im Hintergrund hängt ein grünes Hemd in einem Fensterrahmen. Über dem Gesicht der Frau fliegt ein Satz in einzelnen Worten verteilt von oben nach unten:
WHAT UTOPIA DO YOU STRIVE FOR?
Mittig, im unteren Bildrand bemerke ich eine kunstvolle Unterschrift, Milano Jin Dao.
Mein Phone zeigt mir jetzt einen Text zu dem Bild: «Eine neue Serie von Zeichnungen ist im Raum verteilt, die Zhang anfertigen lassen hat. Es handelt sich um abgezeichnete Collagen, die Zhang aus Instagram und TikTok-Bildern, Fotos vom städtischen Raum in Mailand, Werbeanzeigen und Fotos, die sie selbst im häuslichen Rahmen zeigen, angefertigt hat. (…) Die Zeichnungen wurden von Künstler*innen angefertigt, die ihren Lebensunterhalt normalerweise damit verdienen, Tourist*innen rund um den Dom in Mailand zu zeichnen. (…)» Tourist:innen, die sich wie vorher in Social Gifts vor dem Dom selbst inszenieren, ihre Bilder auf den sozialen Medien teilen und der Künstlerin als Material, als soziale Geschenke zur Verfügung stellen – ein Loop!
Allerdings, denke ich dann, verlässt das Material jetzt, durch den Eingriff der Künstlerin und die Übertragung in die Zeichnung, den Kreislauf der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie, wird zum handgefertigten Einzelstück und von Jiajia Zhang zum Werk erklärt. Die Frage nach dem Meisterwerk und seiner Entstehung stellt sich auf eine andere Weise, spüre ich. Der nächste Loop, denke ich.
Ich schaue mich weiter um und sehe eine Fotografie, die wie ein Poster auf eine Säule tapeziert ist. Sofort fotografiere ich das Bild und mein Phone sagt mir: «Jiajia Zhang, Switch, 2023. Blueback-Fotografie, 59,4 x 42cm. Switch zeigt einen Knopf in Nahaufnahme. Neben «On» und «Off» gibt es, verblüffenderweise, auch einen Knopf für «Mood», das heisst also «Stimmung». «Moodmanagement» ist ein Schlagwort unserer Zeit.»
Ich bemerke, dass mein Hirn in dieser Ausstellung auf jeden Fall ausgesprochen «On» ist und dass es versucht hier ständig irgendwie alles zusammenzubringen. Ich habe bereits eine Ladenfenster Installation gesehen, drei Mal den neuen Film der Künstlerin angeschaut, über eine Strassenkünstler:innen Zeichnung nachgedacht und stehe jetzt wieder vor einem neuen Medium. Meine Irritation, die eben noch innerhalb des Films stattgefunden hat, hat sich auf meine Raumerfahrung übertragen. Was ist das für eine Mood?
Ich nehme den Floorplan auf der Rückseite der kleinen Publikation zur Hand und stelle fest, dass ich Dreiviertel der Ausstellung noch vor mir habe. Ich bewege mich also auf die rechte Seite der Rampe zu, vorbei an einem Vorhang aus Plastikedelsteinen, der einen Raum mit der Projektion des Films Untitled (After Love), 2021 vom Hauptraum trennt. Zu meiner Rechten werfen fünf schwarze Stadionstrahler warme gelbe Lichtkegel auf die Erde als würden sie dort etwas suchen. Ich scanne die Lampen: «Chore (1-5: care, compassion, courage, communication, commitment), 2023». Scheinbar treffen sich in der Installation das Äussere und das Innere, die Stadt und die Hausarbeit, vermute ich, als ich das Licht sehe. Ich muss an Fotografie denken oder an Film, an wie die Dinge erscheinen im Licht, bei Tag oder bei Nacht, die Inszenierung von Architektur und wie alles immer irgendwie inszeniert wird, nicht nur im Film in Szene gesetzt wird, ich denke an das Rampenlicht der Influencer:innen und deren Hoffnungen und Strategien und wie sie selber strahlen wollen und ich denke an ihre Betten und die Wärme ihrer Wohnungen, aus denen sie sich selbst heraus in die Welt senden.
Vorbei an den Strahlern gelange ich in einen kleinen hellen Raum ohne Tageslicht, in dem acht grundverschiedene Arbeiten in nahen Abständen installiert sind und ich schaue mir selbst dabei zu, wie ich mich mit meinem Phone vor meinen Augen durch die Arbeiten navigiere wie mit Google Maps durch die Gassen einer fremden Stadt. Die Werke werden zu Gebäuden, die Titel zu Strassennamen, Nachbarschaften tuen sich auf, Bezüge stellen sich her wie nebeneinander parkende Autos, Materialien werden sichtbar und der inhaltliche Städtebau dieser Ausstellung wird dichter und dichter. Eine Stadt aus insgesamt 32 Arbeiten, 2 Werkserien mit jeweils mehreren Objekten, 5 Filmen der Künstlerin und 8 Werken anderer Künstler:innen, die Jiajia Zhang aus der Sammlung des Kunstmuseums mit in ihrer Ausstellung integriert hat.
Ich wandele also weiter durch einen Gang an einer Reihe kleiner gravierter Schlösser in Herzform vorbei, an Bleistiftzeichnungen, an zwei Videos und einer Kette aus 260 Silberringen, bis ich in einem grossen schummrigen Saal lande. Ich setze mich hin und atme ein.
Die kinoformatige Projektion zeigt mir Nahaufnahmen eines riesigen flackernden Werbescreens. Die sanften Farben der Arbeit Screen, 2023 legen sich angenehm auf meine Iris und spiegeln sich auf der dunklen Glasscheibe meines Phones. Bruchstückhaft erkenne ich den Schriftzug Urban Vision. Eine fragmentierte Werbeworthülse, deren Überreste die Künstlerin auf vielschichtige Weise in ihrer Ausstellung zu einem subjektiven Ganzen zusammenfügt hat. Dabei ergänzen sich die Stücke gegenseitig wie Bilder oder Sequenzen in ihren Filmen. Jedes Bild ist dabei zuerst scharf und verschwimmt am Ende in der Vielzahl der Arbeiten zu Gunsten einer ganz bestimmten Mood, denke ich. Eine Mood dieser schwer fassbaren und beziehungsreichen Gegenwart zwischen Screen, Stadt und dem eigenen Chore. Mit meinem Phone in der Hand frage ich mich, ob dieser Zustand vielleicht vergleichbar ist mit einer Hypnose und ich frage mich, was wir da eigentlich sehen, in dieser Hypnose.
Jiajia Zhang, permanente ortspezifische Arbeit beim Ausstellungsraum Hamlet, Dörflistrasse 67, 8050 Zürich-Oerlikon; und You Left Something Behind, 22. April–27. August 2023, Kunstmuseum St.Gallen
Verzichtserklärung: St. Gallen kann nicht normalerweise als Zürcher Vorort verstanden werden. Wir bitten um Verständnis der St. Galler:innen, wenn es ausnahmsweise so betrachtet wird.