Seit Pandemiebeginn erfreut sich Ratgeberliteratur grösster Beliebtheit. Kein Wunder, flächendeckendes Homeoffice inklusive mehrstündigen Videokonferenzen sorgten dafür, dass man seinen Job und im Speziellen den Umgang mit Arbeitskolleg*innen und Vorgesetzten neu lernen musste. Dale Carnegies weltbekannter Klassiker How to win friends and influence people (1936) bietet die entsprechende Hilfe zur Selbsthilfe. Die gleichnamige Ausstellung von Rosa Aiello (*1987) und Cassidy Toner (*1992) bei Sgomento wiederum, ist weder eine Ode an Carnegie noch auf Ratgeberliteratur, sondern beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Sprache an sich.
«Creativity» schallt es noch vor dem Betreten des Ausstellungsraums ins rechte Ohr. Die über einen Sensor aktivierte Stimme kommt von einer kleinen, schwarzen Sprechanlage. «Openness» ertönt es beim nächsten Schritt aus einer anderen Ecke. «Generosity», «Versatility» und «Intelligence» folgen. Mal bestimmt, dann verunsichernd oder fragend ausgesprochen. Dem Werktitel Excerpts from a voice message to my brother about the reference letter I would write on behalf of his acting coach (2021) ist zu entnehmen, dass die Künstlerin Rosa Aiello ebendiese Worte verwendete, um die positiven Eigenheiten ihres Bruders hervorzuheben. Worte, die wir verwenden, um menschliche Charaktereigenschaften zu beschreiben und Worte, die sich nun immer, und immer wieder, an uns selbst richten.
Um die seltsamen Auswüchse des Bedürfnisses, einen Menschen begrifflich fassbar zu machen, geht es auch in der Arbeit I have a fetish for being judged, so get me off (2021) von Cassidy Toner. Wir stehen sechs grässlich-niedlichen Tierfiguren aus Keramik gegenüber. Über ihren Köpfen prangern Wort- und Satzfetzen wie «Social idiocy», «Heaven, Earth, Hell» oder «Fear of ridicule, failure, criticism and public opinion», die mit Pfeilen auf ganz bestimmte Kopfbereiche zielen. Eine Anlehnung an die Phrenologie. Die von Franz Gall im 19. Jahrhundert entwickelte – und mittlerweile als Pseudo-Lehre widerlegte – Theorie versuchte ausgehend von der Schädelform auf das Wesen eines Menschen zu schliessen; eine Topologie des Gehirns zu erstellen. Toner führt diesen Ansatz ad absurdum: mit ihren Skulpturen zeigt sie die Sinnlosigkeit des Unterfangens auf, einen Charakter und Intellekt etikettieren und auf emotionale Zustände reduzieren zu wollen. Doch es wäre eine Illusion zu glauben, dieses Verlangen überwunden zu haben. Die ständige Interpretation und Bewertung seines Umfelds ist dem Menschsein inhärent. Wer vor ein paar tausend Jahren einen Säbelzahntiger mit Hashtags wie #bff4ever, #cute oder #bestmeow gelabelt hätte, wird vermutlich kaum Nachkommen generiert haben. Unser (Über-)Lebensinstinkt scheint also von der blitzschnellen Kategorisierung abhängig zu sein. Deshalb dauert es lediglich eine Zehntelsekunde bis wir unser Gegenüber gescannt und eingeordnet haben: Gut oder böse? Kätzchen oder Säbelzahntiger? Freund oder Feind?
Mit der Deutung unseres Verhaltens konfrontiert uns auch Aiellos Triptychon How our Hands Help us Think (2021). Auf quadratischen, weissen Leinwänden sind die umrisshaften Zeichnungen eines gestikulierenden Mannes zu sehen. Darunter stehen die Satzstücke «An adult reasoning about the / moral dilemma posed by his desire / to use his son’s money». Die Idee zu diesem Werk stammt, wie der Ausstellungstitel, von einem Buch. Und wie bei Carnegie, liegt der Fokus auch hier auf der Kommunikation, wenn auch auf der nonverbalen. Während Carnegie seinen Leser*innen durch das Lernen und gezielte Einsetzen von Sprach- und Verhaltenscodes zu Erfolg, Einfluss und Macht verhelfen will, untersucht Susan Goldin-Meadow in Hearing Gesture: How Our Hands Help Us Think (2003), inwiefern Gesten vom Gesprochenen abweichen. Mehr noch: Sie behauptet, dass wir über das intuitive Gestikulieren mit unseren Händen Gedanken zum Teil viel deutlicher übermitteln als in jeder anderen sprachlichen Form.
Gerade in der Welt von heute kommunizieren wir beinahe pausenlos und auf verschiedensten Kanälen. So erfährt die Sprache mit der Verwendung von Emoticons, GIFs und Stickers zum einen eine maximale Reduktion, gleichzeitig wollen wir über geschlechtergerechte und diskriminierungsarme Ausdrucksweisen ihre absolute Diversifikation erreichen. Doch unabhängig davon, welche Kommunikationsform wir anwenden, um uns mitzuteilen, es scheint unmöglich aus unserem Sprachkäfig auszubrechen. Also bedienen wir uns, ob bewusst oder unbewusst, an ihren Rastern. Urteilen und kategorisieren. Umgekehrt macht sich der Mensch als beschlagwortetes Datenprodukt diverser Algorithmen (Stichwort Quantified Self) zurzeit selbst zum Opfer einer neuen Phrenologie. Es stellt sich also nicht nur die Frage, wodurch unser Denken und Handeln in Bezug auf zwischenmenschliche Prozesse bestimmt wird, sondern wie autonom wir überhaupt noch agieren können. Aiello und Toner erteilen uns im Unterschied zu Carnegie zwar keine Ratschläge, aber sie demontieren in ihren Werken das menschliche Verhalten und veranschaulichen die Widersprüchlichkeiten unseres begrenzten Daseins.
How to win friends, and influence people, Sgomento, Olivengasse 7, 8032 Zürich
17. September 2021 – 30. November 2021, nach Vereinbarung, info [at] sgomento.com
Bilder: Cassidy Toner, I have a fetish for being judged, so get me off, 2021; Ausstellungansicht Rosa Aiello and Cassidy Toner «How to Win Friends, and Influence People» at Sgomento, Zurich, 2021; Rosa Aiello, How our Hands Help us Think, 2021. Alle Bilder: SZ, Courtesy die Künstlerinnen und Sgomento