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Reading Rämistrasse #19: Jörg Scheller zu Landschaften im Kunsthaus Zürich

Zugegeben, es gibt Kunstausstellungen, die auf den ersten Blick sexyer sind als solche der neuzeitlichen Landschaftsmalerei. Monochromer Vedutenschleim, Schäferstündchen im Rauschewald, die Heilige Familie merkwürdig gechillt beim Picknick – seriously? Aber vielleicht kann ja gerade das angestaubte Genre der Landschaft den Blick schärfen für die Sensation des Unspektakulären und die futurologische Doppelbödigkeit des Überkommenen. Im Kunsthaus Zürich gibt's dazu reichlich Gelegenheit. Die nüchtern betitelte Ausstellung «Landschaften» spannt einen Bogen von mittelalterlicher Sakralkunst über neuzeitlich-holländische Flachlandschaften bis hin zu sparsam dosierten modernen und postmodernen Experimenten (Cy Twombly, Goethe in Italy (Scence II), 1978).

Gerade die an B-Movies erinnernde Kulissenhaftigkeit mittelalterlicher Landschaften wirkt merkwürdig contemporary. Die typischen Gesteinsformationen könnte man auch problemlos in einem zeitgenössischen Baumarkt verkaufen – unter den grotesken Dekosteinen würden sie gar nicht auffallen. Und sind unsere heutigen «Natur»Landschaften nicht ihrerseits Kulissen, wenngleich hyperreale – nicht für religiöse Stelldicheins wie im Mittelalter, sondern für touristische? Vielsagend sind auch die imaginären Weltlandschaften des Mittelalters mit ihrem überhöhten Betrachterblickpunkt. In modischen Visualisierungen der Globalisierung begegnen wir dem hochfliegenden Auge wieder, schauen gar vom Weltall wie Gott auf den Erdball. Im entrückten Betrachterblickpunkt artikuliert sich ein modernistisches Klischee, wie Bruno Latour in seinem Buch Das terrestrische Manifest, 2018, i.O. 2017, bemerkt: «Erkennen heißt, von aussen erkennen. Alles muss von Sirius aus betrachtet werden – einem bloss eingebildeten Sirius, zu dem keine Person je gelangte.» Mit Blick auf das Mittelalter müsste man, in den Worten Latours, hinzufügen: «Wir sind nie modern gewesen.»

In der Renaissance erfreute sich dann, wie zum Ausgleich, die Waldlandschaft reger Beliebtheit, etwa bei Jan Brueghel (I) und seinem Waldinneren, um 1605. Von metaphysischen Höhen tauchen die Künstler hinab ins Gewucher und Gewuschel der Vegetation, wohin uns auch Latour in seinen Texten zurückführen möchte. Menschen sind nur winzige Flecken in einem überbordenden Environment – ausgerechnet in einer Zeit, da angeblich der Mensch zur Krone der Schöpfung avancierte! In der Waldlandschaft aber überragen ihn die Baumkronen.

Kurioserweise scheinen in dieser Ausstellung die mittelalterlichen und neuzeitlichen Landschaften der Jetztzeit näher als die frühmodernen. Bernardo Bellottos Veduta die Gazzada, 1744, etwa wirkt in ihrer abgeklärten Nüchternheit wie ein Antidot zu unserer hybriden Gegenwart, die zwar von nüchterner Wissenschaft zehrt, aber diese als Mythenmaschine, Imaginationsverstärker und Fantasiefabrik einsetzt. Bei Bellotto ist Schluss mit Hybrid, Mythos, Projektion, Sinnaufladung, Fantasie, Metaphysik. In seinem braven visuellen Protokoll zeigt er, was ist; nicht, was sein könnte oder sein sollte – wenig könnte den dominanten Strömungen der Contemporary Art des 21. Jahrhunderts ferner sein, wenig auch unserer fiebrigen Medienästhetik. So hinterlässt diese Ausstellung einen paradoxen Eindruck: Je ferner die Vergangenheit, desto näher die Gegenwart.

Landschaften – Orte der Malerei, Kunsthaus Zürich
17. Juli – 8. November 2020

Bilder: Cy Twombly, Goethe in Italy (Scene II), 1978, © Cy Twombly Foundation; Jan Brueghel (I), Der Weg zum Kalvarienberg, um 1605/1610, Kunsthaus Zürich, Stiftung Betty und David Koetser, 1986; Bernardo Bellotto, Veduta di Gazzada, 1744, Kunsthaus Zürich, Stiftung Betty und David Koetser, 1986

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