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Sharon Lockhart

25.03.–21.05.2000

In Beziehung gesetzt mit einer Auswahl ihres bisherigen fotografischen Werkes, bilden neue, vielteilige Serien den Schwerpunkt dieser Einzelausstellung von Sharon Lockhart. Sie haben ihren Ursprung in Reisen im brasilianischen Amazonas-Gebiet, die die in Los Angeles lebende Künstlerin gemeinsam mit Anthropologen unternahm.

"Aripuanä River Region: Interview Locations" entstand während einer Bootsfahrt von Dorf zu Dorf flussauf und -abwärts. Bei jedem Halt befragte die Anthropologin eine oder mehrere Familien in ihrer gewohnten Umgebung. Im Anschluss dokumentierte Sharon Lockhart in sachlicher Distanz und Schwarzweiss einzig die leeren Gesprächsorte und präsentiert sie sozusagen als uninszenierte Interieurs. Die Bewohner erscheinen nur mittels abfotografierter Schnappschüsse aus ihren Familienalben, die eine intimere und gleichsam authentischere Form von fotografischer Erinnerung vermitteln.

In der Serie "Apeü-Salvador: Families" hingegen posieren die Inselbewohner unmittelbar für die Kamera, wobei sich jedes Portrait der durchwegs frontal aufgereihten Familien in leisen Änderungen repetiert. Lockhart begibt sich mit einer der Konzeptkunst nahen Systematik auf das Terrain der Feldforschung und der ethnografischen Dokumentarfotografie. Dieses Genre, das traditionell mit wissenschaftlicher Methodik das Unvertraute und Andere erforschen, aber auch kontrollieren will, unterwandert sie gleichzeitig mit einer insistierenden Nähe zum betrachteten Gegenüber, die ebenso eindringlich wie unergründlich ist.

In der Ausstellung sind solch exemplarisch ausgewählte Familien-Portraits konfrontiert mit der grossformatigen Farb-Serie "Auditions" von 1994, die im Genre von Probeaufnahmen Bezug nimmt auf eine Szene aus Truffauts Film "L'argent de poche". Fünf verschiedene Kinderpaare imitieren den ersten Kuss, eine intime Begegnung zwischen Scheu und Zwanglosigkeit. Ihre für die Kamera inszenierte Emotionalität wird durch das unverstellte Dasein der brasilianischen Familien offensichtlich.

Immer am Schnittpunkt von Fotografie und Film arbeitend, zeigt Sharon Lockhart gleichzeitig in einem Kino ihren 35mm Film "Teatro Amazonas". Gedreht im kolonialistisch-prachtvollen Opernhaus von Manaus, fokussiert er nicht eine Aufführung, sondern portraitiert in einer fixen Kameraeinstellung das Publikum in Realzeit, das zuerst befragt und dann eingeladen wurde, um in seinem Mix aus Ureinwohnern und Einwanderern die heutige Bevölkerungsstruktur der Stadt zu repräsentieren.

Ebenfalls im 16mm Film "Goshogaoka", 1997 in Japan entstanden, zeigt Sharon Lockhart eine Annäherung an das Fremde mittels formaler Rigorosität und Ausdauer, die die Wahrnehmung beruhigen und zugleich irritieren. Auch andere Arbeiten, die in der Ausstellung als Einzelwerke oder Serien aufscheinen, bauen zwischen Ordnungsraster und individuellem Sein ein Spannungsfeld auf, zeigen die ungewisse Beziehung zwischen Wahrheit und Fiktion.