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Sam Samore

15.01.–13.03.1994

In Sam Samores Bildern steht der Mensch im Fokus. Es sind normale, namenlose Leute, die sich unbeobachtet fühlen, über die keine Geschichte erzählt, deren Identität nicht preisgegeben wird. “Situations" nennt der Künstler lapidar diese fotografischen Annäherungen, ohne sie weiter zu betiteln und datieren. Es geht gerade nicht um eine Individualisierung der in diesen Szenarien aufscheinenden Personen, sondern um ihr allgemeines, jedoch konkretes Da-Sein, um gelebte Erfahrung im Kollektiv der Masse.

Konsequenterweise verwischt Sam Samore seine Spuren als Künstlerpersönlichkeit, seine eigene Biografie bleibt ebenso ein Mysterium; zur Zeit ist er “ein Amerikaner in Paris". Diese Zurücknahme seiner persönlichen Geschichte steigert sich durch das Konzept, nicht selbst auf Strassen, Plätzen und in Pärken zu flanieren, generell an öffentlichen Orten irgendwo auf der Welt, um zu solchen Aufnahmen zu gelangen. Er beauftragt professionelle Fotografen, in seinem Sinn und nach seinen Angaben vorzugehen. Ihre sozusagen "verbotene Blickweise" ist weniger als Aufspüren im Sinne der detektivischen Observation zu verstehen, vielmehr steht eine anonymisierte Autorschaft im Zentrum, eine indirekte und bereits mediatisierte Beobachtung. Sie schafft den Raum, dieses schnappschussartige und künstlerisch sicherlich noch kaum ergiebige Basismaterial zu transformieren. Mit den Mitteln dramatisierender Fragmentierung, der Drehung und Blow-ups werden diese stark selektionierten Vorlagen erst eigentlich zu Bildern.

Sie sind kompakt-physisch und scheinen sich zugleich in der Nahsicht grobkörnig aufzulösen. Ihr erhöhter Abstraktionsgrad öffnet Projektionsfelder für den Betrachter. Keimende Narrationen verharren im Ungewissen, die Wechselwirkungen von Mensch zu Mensch und ihrem Umfeld bleiben hochpräzis kalkulierte Fragen, die der Wahrnehmung des Einzelnen überlassen bleiben. So entstehen durchlässige Zwischenbereiche zwischen Verismus und Surrealität. Sam Samore vergleicht sie denn auch mit dem dunklen Kinoraum, der die Projektion unserer Wünsche und Ängste absorbiert.

Inetwa körpergrosse Formate machen Alltagsakteure zu Trägern einer Art Halbwachbewusstseins. Sie kreisen überaus suggestiv Wahrheiten psychischer und physischer Art ein, ohne ihnen habhaft werden zu wollen. Die Vergeblichkeit allen Verlangens nach realer Verbundenheit scheint in all den Gesten der isolierten Kontaktnahme handgreiflich zu werden wie die Sehnsucht, die Grenzen des Ichs ausufern zu lassen. Seine Figuren halten inne, alleine oder in Gruppen. Vielleicht ist es mehr ein Ausharren, in dem das Schauen zur eigentlichen Aktion wird, ein merkwürdiges Ausschauhalten - angestrengt oder in sich gekehrt - nach etwas Anderem, das nicht anwesend ist, aber in kurzen Momenten und Situationen wundersam aufscheinen kann.