Eine Geschichtsausstellung mit Sensibilität und Stil zu kuratieren, ohne das didaktische Ziel eines solchen Unternehmens aus den Augen zu verlieren, ist nicht selbstverständlich. Umso beeindruckender also wäre eine solche Ausstellung, die sich einem hochkomplexen, bis heute anklingenden Ausbeutungssystem als Thema annimmt und dieses einem Laienpublikum spannend und lehrreich vermittelt, ohne dabei herablassend zu wirken. Aber genau dies ist dem Zürcher Landesmuseum mit der Ausstellung kolonial gelungen.
Die Choreographie der Ausstellung verläuft chronologisch, in dem sie mit einem Zeitstrahl der ersten 500 Jahre der Kolonialgeschichte anfängt und sich dann weiter und weiter zuspitzt, anfangend mit der kommerzialisierung von Territorien und Menschen im Globalen Süden durch den Transithandel und den Siedlungskolonien – in der die Institutionen Kirche und Wissenschaft eine entscheidende Rolle gespielt haben. Dann erstreckt sich die Ausstellung bis hin zur Schweiz des 20. Jahrhundert, als sie das südafrikanische Apartheidregime unterstützte, sich aber gleichzeitig als Land der Entwicklungshilfe zu positionieren versuchte. Gleichzeitig wird in kolonial eine zweite, parallele Temporalität sichtbar. In der gesamten Ausstellung wird das Publikum über einen «Metadiskurs» angeleitet, sich darüber Gedanken zu machen, wie der Kolonialismus gegenwärtig in den Medien gehandhabt wird. Dieser Metadiskurs wird zum einen von einem sogenannten Glossarbüchlein getragen, das Besucher:innen am Eingang mitnehmen können. Das Glossarbüchlein verdeutlicht Konzepte, die in der Ausstellung durch Beispiele vertieft werden, wie etwa versklavte Menschen, Exotisierung, Eurozentrismus oder Restitution. Zum anderen erklären mit roten Klammern versehene Wandtexte bestimmte Entscheidungen, die die Kurator:innen getroffen haben. Zum Beispiel, wieso sie es für wichtig hielten, gewisse Materialien in der Ausstellung zu zeigen, statt wie im Fall der Ausstellung Blinde Flecken 2023 im Zürcher Stadthaus verstörende bildliche Inhalte zu zensurieren.
Mit solchen Massnahmen wird die Kommunikation zwischen Publikum und Kurator:innen kontinuierlich offen gehalten. Das in der Ausstellung verwendete Vokabular, das aus der US-Amerikanischen critical race theory bzw. postcolonial theory zwar vertraut, aber auch vom kontinentalen Poststrukturalismus geprägt ist, wirkt somit auch nicht wie eine willkürliche Importation, sondern er wird an spezifischen Fallstudien aufarbeitet und Beispielen aus dem Schweizer Kontext gegenübergestellt. Damit zeigen die Kurator:innen anhand ihres Modells auf, wie «difficult knowledge» kuratiert und vermittelt werden kann, und wie Vermittler:innen einer komplizierten, unbequemen Vergangenheit Verantwortung übernehmen dürften. Im Wissenschaftlichen Beirat der Ausstellung befindet sich u.a. die Kulturwissenschaftlerin Patricia Purtschert, die 2012 das Buch Postkoloniale Schweiz veröffentlicht hat. Ihr Einfluss ist etwa im Teil «Rassismus im Alltag» und dem Fokus der Ausstellung auf die stereotypischen und exotisierenden Bilder, die bis heute in der Schweiz kursieren, erkennbar.
Geankert wird die Ausstellung durch Dokumente und Objekte, die historisch vom transatlantischen Sklavenhandel und der frühen Rolle der Schweiz darin zeugen. Zum Beispiel mit einem Tuch aus Indienne-Stoff, einem überdimensional grossen und sehr detaillierten Wanddruck eines Sklavenschiffes oder verschönernde pittoreske Gemälde von Kolonien, wie etwa François Dumoulin’s Szene von versklavten Menschen in Grenada im Jahre 1773. Anderswo steht eine Serie von artefaktischen, textuellen und filmischen Exponaten für die subtile und tückische Art, wie die Schweiz vom Dreieckshandel und vom Kolonialismus profitiert hat. Etwa mit der Basler Missions-Handlungs-Gesellschaft, welche durch die Lockerung von Marktzugängen vom Rohstoffhandel mit Ghana grosse Gewinne zog, oder Dank den Schweizer Söldnern, welche vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert ihren Platz in der Niederländischen Ostindienkompanie bestritten.
Die Ausstellung oszilliert somit reibungslos zwischen historischen Narrativen und archivarischen Materialien auf der einen Seite, und einem didaktischen Diskurs über die gegenwärtige mediale Behandlung dieser Geschichte auf der anderen. So stehen oben genannte historische Dokumente in unmittelbarer Nähe zu zwei Bildschirmen, auf denen Hans Fässler und Markus Somm die Industrialisierung der Schweiz, und die Rollte, die der Kolonialismus darin spielte, diskutieren. Besonders beeindruckend ist, dass zu vielen der historischen Objekte ein zeitgenössisches Pendant erwähnt oder abgebildet wird. Etwa die sogenannten «Nickn—», mit unterwürfig bettelnden Schwarzen Menschen verzierte Sparbüchsen, welche die Missionar:innen in Kirchen zur Finanzierung ihrer Arbeit ab 1880 ausstellten, finden sich in der Ikonographie von Werbeplakaten für gegenwärtige Entwicklungshilfeprojekten wieder. So wird immer wieder vor Augen geführt, wie stereotypische und schadliche Bilder bis heute zirkulieren. Doch auch die konkreten Folgen des Kolonialismus, laut den Kurator:innen, sind bis heute spürbar: In einem Seitenkapitel wird die bis heute andauernde Ausbeutung der Natur durch die koloniale Abgewinnung von Ressourcen thematisiert, indem Klimawissenschaftler:innen, wie zum Beispiel Khady Camara aus Senegal, zu Wort kommen. In Amy Sodaros neuem Buch, Lifting the Shadow, behandelt die Soziologin im US Amerikanischen Kontext genau solche museale Konstrukte, wo die Geschichte der Sklaverei mit den gegenwärtigen Operationen des Rassismus in Verbindung gebracht, statt sie als antiquiert darzustellen und so rassistische Unterdrückung ins Zentrum gerückt wird. Diese Strategie fungiert auch in kolonial als starkes Argument.
Im «Rassismus»-Teil erklärt Naomi Lubrich, die Leiterin des Jüdischen Museums Basel, von einem mit Kopfhörern bestückten Monitor aus die Ursprünge des Rassismus als unebenes Machtverhältnis, das artifiziell konstruiert und immer wieder neu und auf arbiträre Weise gegen verschiedene Menschengruppen angewendet wird. Im vorletzten Raum wird die Rolle der modernen Schweiz, nun als «neutraler Staat», in den Dekolonisierungsbewegungen der 1970er Jahre erwähnt. Hier wünschte ich mir als Besucherin eine tiefgründigere Auseinandersetzung mit der ideologischen Kraft der Neutralität und dem Opportunismus, der mit einer solchen Umpolung von Profiteurin des Kolonialismus zu Akteurin im «Guten Dienst» einherging, ohne Anerkennung der zweideutigen, z.T. zwielichtigen Vergangenheit. Denn das Argument, das im Hintergrund der Ausstellung leise zu vernehmen ist – dass die Schweiz ihr Dasein als Kolonialmacht ohne Kolonien hinter dem Schleier des Humanitarismus und der Neutralität kaschieren konnte – wäre so expliziter zum Ausdruck gekommen. Auch steht das Framing der Verwicklung des Schweizer Staates in die formelle Dekolonisierung – eine weitere neokoloniale Geste – etwas unverhofft neben Zeugnissen von Zivilist:innengruppierungen in der Schweiz, welche durch Solidarität und politische Aktion Widerstand geleistet haben und dies immer noch tun. Die 1995 aufgenommene Rassismus-Strafnorm wurde nämlich durch den Aufstand von Aktivist:innen gewährleistet, die Druck auf den Staat ausübten.
Bekennung und Erinnerung sind ein grosses Thema der Ausstellung. Ebenfalls wird die Restitution von gestohlenen Kunstwerken angesprochen, aber die Erinnerungsaufarbeitung für ein zeitgenössisches Schweizer Publikum wird ganz klar als die wichtigste Antidote gegen Ungleichheit präsentiert.
Als ich im letzten Raum die panoramische Wand mit sechs Monitoren erblickte, wurde ich erst skeptisch; die Bührlesammlung im Kunsthaus nutzt solche «Talking Heads» um die Frage von Restitution von Raubkunst vom Holocaust als reines Gedankenexperiment zu relativieren. Doch die sechs Expert:innen, die uns von diesen Bildschirmen aus konfrontieren nehmen den Nachhall des Kolonialismus in der zeitgenössischen Schweiz als Faktum und offerieren, in einer Art öffentlichem Forum, Strategien, vom Errichten neuer Monumente, und der Subversion alter Monumente, zu direkten Eingriffen in die Politik, um damit umzugehen. Ich habe schon einmal zur Schweizer Erinnerungsaufarbeitung im Kulturwesen geschrieben, dass die Schweiz noch auf der Suche nach Formen sei, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Das Bild des Forums scheint eine sehr schweizerische und überdieshinaus sehr clevere Art, die Komplexität der Geschichte zu verhandeln. Es sei denn es wird richtig eingesetzt.
Auf einer grossen Fläche mit Abschlussfragen ans Publikum werden wir explizit aufgefordert, uns einzubringen. Als ich mit meinen Kolleg:innen die Ausstellung besuchte, waren schon fast alle Kärtchen auf der Fläche vollbeschrieben. Die Besucher:innen haben viel zu sagen, obschon die meisten Kärtchen, vermutlich von Kindern beschrieben, immer noch von einem «wir und die anderen» Diskurs zeugen und auf Verbesserungspotenzial hinweisen. Im Oktober gab es im Rahmen der Ausstellung im Landesmuseum eine Podiumsdiskussion zur Vermittlung der Kolonialgeschichte in Schulen und es wäre interessant zu sehen, ob etwas davon realisiert wird. Wieso fühlt sich diese Ausstellung anders an als so viele andere gegenwärtige politisch engagierte Ausstellungen, die ihr Publikum halb kläglich, halb vorwurfsvoll einladen, ihre eigene Rolle in einem grösseren System zu konfrontieren und davon zu lernen? Vermutlich liegt es an der Ernsthaftigkeit, mit der tiefgründige Archivforschung und Artefakte eingesetzt werden. Es ist bestimmt auch dem fokussierten Konzept zu verdanken, das nicht alles ins Blickfeld fasst, aber stattdessen ein klares und stark ideologisches Argument über Kolonialismus und Rassismus als Instrumente der Machtgewinnung verfolgt. Und schlussendlich wird Interaktion durch die ganze Ausstellung hinweg gefördert, mit den vielen direkten «Notizen» an Besucher:innen: Wir werden also als Mitdenker:innen ernst genommen und es wird uns eine komplexe Argumentationsweise zugerechnet. In der Ausstellung kolonial stehen Diskussion und Debatte als dekolonialisierende Praxen deutlich im Vordergrund.
kolonial, Landesmuseum Zürich, Museumstrasse 2, 13. September 2024–19. Januar 2025