Rund fünfzig Menschen gehen im Gänsemarsch hintereinander durch den bewaldeten Teil zwischen Autobahn und Schiessanlage. Am Fuss des Uetlibergs entlang hinab zur Sihl; sie tragen Blumen in den Händen, die sie dem Fluss als Geschenk übergeben. Sie gleiten als gelbe, pinke und orangefarbene Punkte auf der Oberfläche des Wassers in Richtung Stadt. Manche widerstehen dem Strom und bleiben schwankend am Ufer zurück. Auch die Teilnehmer:innen des performativen Spaziergangs schwanken. Manche wegen dem ungewohnten Gelände als Bühne, andere, ob sie sich auf den Gedanken, einem Fluss ein Geschenk zu machen, einlassen wollen.
Das Stück Mountains in Resistance – The School of Mountains and Water der mexikanisch-chilenisch-österreichischen Choreografin, Tänzerin und Kuratorin Amanda Piña verhandelt genau diesen Disput und lädt zum Verlernen verankerter Denkweisen ein. In ihrem forschenden Schaffen beschäftigt sie sich unter anderem seit 2014 mit dem Langzeitprojekt Endangered Human Movements, in dem sie sich mit menschlichen Bewegungspraktiken auseinandersetzt, die abseits der «modernen kolonialen Matrix» existieren und den Fokus auf andere Empfindungs- und Bedeutungswelten legen. Denn in vielen Gebieten der Erde sind durch den Verlust der Biodiversität auch soziale und kulturelle Praktiken verschwunden. Sie verknüpft indigene Traditionen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und hat das Stück für das Zürcher Theater Spektakel adaptiert.
Zu Beginn des dreistündigen Spaziergangs bekommen die Teilnehmer:innen am Ufer der Landiwiese Kopfhörer, über die sie mit Blick auf den See den geografischen Geschichten der Entstehung der Alpen und unserer Landschaft lauschen. Informationen in gewohnter Sprache, untermalt mit organischen Geräuschen wie Wasserrauschen oder -plätschern. Eine Performerin mit Fahne gibt ein Zeichen zum Aufbruch; wie eine kleine Demonstration füllen die Teilnehmer:innen die Quartierstrassen, während sie der schwarzen Fahne folgen und von Betreuer:innen über Kreuzungen gelotst werden. Jede:r durch die Kopfhörer voneinander abgekapselt, nicht wirklich wissend, wozu sie auf der Strasse sind. Die Stimme im Ohr erzählt von einem Traum, einem sprechenden Fluss, einer dystopischen Zukunft – von der kolonialen Geschichte der Wissenschaft und wie sie unser Denken beeinflusst. Sie vermischt sich mit dem Rauschen der Autos auf der Autobahn, die sich wie ein grauer Fluss unter uns hindurchzieht, während wir über die Fussgänger:innenbrücke gehen.
Nach diesem Übergang geschieht etwas. Das Publikum erblickt zum ersten Mal Performer:innen in der Ferne, sie tragen textiles Wasser am Körper, heben Steine vom Boden oder stehen mit fliessendem Gewand im Fluss. Die Stimme im Ohr erzählt vom Naherholungsgebiet, auf dem wir uns befinden. Einem von Menschen gestalteten Ort, an dem sie sich vom urbanen und kulturellen Leben erholen sollen. Von der modernen Trennung von Natur und Kultur, als würde das eine das andere ausschliessen. Die Kopfhörer werden abgelegt und in Kisten verstaut. Auf dem Weg durch den Wald an den Fluss erschliesst sich der Sinn des gemeinsamen Bewegens und Lauschens. Man sieht und nimmt Angebote wahr, Verbindungen zu lösen, anders zu knüpfen und alternative Perspektiven einzunehmen. Von Performer:innen begleitet, die den eurozentristischen Blick herausfordern, auffangen und ihn auf das Publikum zurückwerfen, entstehen situative Lesearten. Ein Spaziergang, auf dem erzählt und gezeigt, aber nicht gezwungen wird.
Amanda Piña, The School of Mountains and Water – Mountains in Resistance, Zürcher Theater Spektakel, 18.-21. August
Vom 22.–25. August leitet Amanda Piña den Mountain Talks Stammtisch, jeweils um 17 Uhr.