Renée Greens Werk konstituiert sich, wie im Migros Museum kuratorisch gezeigt, aus fortlaufender Entwicklung unterzogenen Einzelwerken – räumlich inszenierte, skulptural anmutende Installationen. In der Eingangshalle firmiert in Idyll Pursuits, 1991, ein auf einem hölzernen Stativ einer Staffelei positioniertes Kaleidoskop, als sich wundersam veränderlicher, unvoreingenommener Blick auf die unmittelbar dahinter befindliche schwarz-weiss Ansel Adams Bergpanorama Fotografie. In Sites of Genealogy (Fear, Flight, Fate; Matrix; Loophole of Retreat), 1990, taucht das Kaleidoskop, diesmal in anderer, elterlicher Dimension, als Teleskop angebracht auf einer hölzernen Leiter erneut auf. Das Teleskop intendiert einen reellen Ausblick aus dem Ausstellungsraum heraus. Sites of Genealogy führt Besucher:innen, entlang einzelner Satzfäden, gerahmt als Bildfläche, schwarz auf weissem Grund, über den Treppenlauf vom Unter- ins Obergeschoss hinauf. Die Installation erstreckt sich in drei Teilen über die Gesamtfläche des Ausstellungsraums.
Import/Export Funk Office, 1992-1993, zeigt sich als umfassende, archivarische Dokumentation der amerikanischen HipHop Kultur. Aus dieser entlehnt, hängen einzelne Begriffe als Bildmaterial an der Wand des Raumes, in dessen Mitte, die architektonisch kompakte, kubische Regal-Installation, die das Archivmaterial in sich trägt. Sie zeigen Erläuterungen von Begriffen, geprägt durch die Black Diaspora, in amerikanischem Alltagsenglisch, darunter dann die deutsche Übersetzung. «FLY: well-dressed; cool; original; good-looking; ‚fly-girl‘» «FLY: gut angezogen; cool; originell; gutaussehend; ‚fly-girl‘ - gut gestyltes Mädchen» Glossar-artig hängt Sprache, und der empfindsame Versuch diese wörtlich, als auch kulturell zu übersetzen, an der Wand. Renée Green leistet darin, ihrem Anliegen ihrer Arbeiten entsprechend, kulturhistorische Aufklärungs- und Vermittlungsarbeit. Diese Glossar-artigen Übersetzungen erfahren Spiegelung durch das, was das Migros Museum auf dessen Website zu tun vermag. «Black Diaspora: Diaspora stammt aus dem Griechischen «diasporá» und bedeutet das Zerstreuen oder die Zerstreuung. In der Diaspora lebende Menschen sind aufgrund verschiedener Beweggründe an Orten beheimatet, die ausserhalb ihrer Ursprungsorte liegen. Der Begriff Black Diaspora bezieht sich spezifisch auf mehrheitliche unfreiwillige Migration von Menschen aus dem afrikanischen Kontinent und ihren Nachkommen in anderen Teilen der Welt.» (1)
Sprache, Worte, Textexzerpte, überall schweben sie durch die Räumlichkeiten. In immer gleicher Motiv-, Farb- und Formensprache sind sie die leitende Linie, derer ich durch die Ausstellung folge. Sie stellen Linearität und Querbezug innerhalb der einzelnen Arbeiten her. Entlang dieser lasse ich mich treiben.
Renée Green ist als Künstlerin auch schriftstellerisch tätig. Sie entlehnt Textexzerpte anderer und situiert diese gemeinsam mit ihren eigenen in immer andersartigen Konstellationen. In dem im Rahmen der Ausstellung stattfindenden Künstler:innen Gespräch zwischen Renée Green und Ima-Abasi Okon, wird Greens literarische Anthologie Other Planes of There: Selected Writings nach der «Combination» zwischen Autorin und Werk und der Autorin und sich selbst befragt. Renée Green sagt: «People’s genealogy, people’s gender … these are all combinations». (2) Renée Greens Arbeiten vermögen sowohl entlang grösserer, politischer Zusammenhänge innerhalb postkolonialer Diskurse, als auch im Kleinen, die Konstitution eigener Identität und deren Disposition zwischen Kontinuität und Diskontinuität, «Possibility of being multiple, not just being one», kritisch in Frage zu stellen. (3)
Codes, Matrizen, indexartige Genealogie - Innerhalb der gezeigten Exponate scheint durch diese Kontinuität und Kontextualität hergestellt, entbehrt dabei aber ein ersehntes, auflösendes Moment. Nummerierte Puzzleteile, die mich in Sites of Genealogy durch die dreiteilige Installation führen, ohne sich mir final zu entschlüsseln. In Import/Export Funk Office sind es kleine rote, grüne, blaue Punkte, die gewisse Textstellen zu akzentuieren scheinen, gelb darunter ist die deutsche Übersetzung markiert. Auch in Space Poem #2 (Laura's Words), doch darin wird mir überdeutlich bewusst, ich bin als Rezipientin aktivierend dazu eingeladen, mich selbst kreativ zu beteiligen, meine eigene Matrix, eine eigene Lesart zu erstellen. Das wiederholende, räumliche Lesen, in immer anderer Linie und Reihenfolge, lässt sich mir immer andere Inhalte erschliessen. Sprache ist fliessend. Ich schwimme.
Space Poem #2 (Laura's Words), 2009, zeigt im Obergeschoss der Ausstellung von der Decke hängende Textildrucke. In bunten Farben, sich innerhalb eines Farbspektrums bewegend, zeigen sich Buchstaben, Worte als Figuren auf Grund, die als Exzerpte einem Gedicht der Lyrikerin Laura Jackson entlehnt sind. Space Poem #2 (Laura's Words) ist keine zentral-räumliche Installation, die klassisch skulpturale Elemente enthält. Es ist Space, Raum entlang der Decke, Denkraum. Die Ausstellung kehrt in gewisser Weise die Linearität des Oeuvres Renée Greens hervor, entlang verwandter Anliegen und Ausdruckskraft. In der Arbeit Space Poem #2 (Laura's Words) allerdings emanzipiert sich das wiederkehrende Motiv des Wassers für mich im Gestus des Sich-Freischwimmens, als ein andersartiges, politisches Moment. Eines in welchem Kreativität durch die Diversität des Publikums und dessen unmittelbarer Beteiligung besonderen Ausdruck erlangt.
Mich treiben lassen in dem Spektrum dessen, was mir an Textexzerpten begegnen mag. Diese zu neuen Gliedern und Satzgefügen zusammen hängen. Mich frei schwimmen, durch meine eigene Intention und kreatives Potential.
The long sea, how short-lasting,
From water-thought to water-thought
So quick to feel surprise and shame.
Where moments are not time
But time is moments.
Such neither yes nor no,
Such only love, to have to-morrow
By certain failure of now and now.
On water lying strong ships and men
In weakness skilled reach elsewhere:
No prouder places from home in bed
The mightiest sleeper can know.
So faith took ship upon the sailor's earth
To seek absurdities in heaven's name —
Discovery but a fountain without source,
Legend of mist and lost patience.
The body swimming in itself
Is dissolution's darling.
With dripping mouth it speaks a truth
That cannot lie, in words not born yet
Out of first immortality,
All-wise impermanence.
And the dusty eye whose accuracies
Turn watery in the mind
Where waves of probability
Write vision in a tidal hand
That time alone can read.
And the dry land not yet,
Lonely and absolute salvation —
Boasting of constancy
Like an island with no water round
In water where no land is. (4)
(1) https://migrosmuseum.ch/storage/product-pdfs/DE_Glossar_Renee_Green.pdf
(2) Artist’s Talk Renée Green und Ima-Abasi Okon, 11.11.2022, https://vimeo.com/769948107 Minute 28
(3) Artist’s Talk Renée Green und Ima-Abasi Okon, 11.11.2022, https://vimeo.com/769948107 Minute 29
(4) „There Is No Land Yet“, Laura Jackson, The Laura (Riding) Jackson Reader, Elizabeth Friedmann, 2005
Renée Green, Inevitable Distances, Migros Museum für Gegenwartskunst, 24. September 2022–8. Januar 2023