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Reading Rämistrasse #70: Sandra Bradvić zu After any given time. Harald Szeemann & Miroslav Tichý bei Tichý Ocean - Akademie - Kunsthalle Zürich
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Reading Rämistrasse #70: Sandra Bradvić zu After any given time. Harald Szeemann & Miroslav Tichý bei Tichý Ocean

Viel ist über Miroslav Tichý geschrieben worden seit 2004, dem Jahr, in welchem Harald Szeemann das Werk des 1926 in Nětčice/CZ geborenen Künstlers an der Sevilla Biennale zeigte. Weshalb soll das Schaffen eines ganzen Künstlerlebens ausgehend von Tichýs internationalem Durchbruch vermittelt werden, der gerade mal die letzten sechs Jahres seines Lebens betraf?

Viel ist über Miroslav Tichý geschrieben worden seit 2004, dem Jahr, in welchem Harald Szeemann das Werk des 1926 in Nětčice/CZ geborenen Künstlers an der Sevilla Biennale zeigte. Weshalb soll das Schaffen eines ganzen Künstlerlebens ausgehend von Tichýs internationalem Durchbruch vermittelt werden, der gerade mal die letzten sechs Jahres seines Lebens betraf?

Ich blättere durch den grossen, schweren Ausstellungskatalog des International Center of Photography, New York, aus dem Jahr 2010. Kein Abbildungsverzeichnis. Nur eine klein gedruckte Inventarnummer am unteren Ende der Katalogseite. Die Systematik der Nummerierung scheint jener zu entsprechen, die auf der Werkliste zu Tichýs aktueller Ausstellung bei der Tichý Ocean Foundation in Zürich zu finden sind. Die Fotografien haben keine Titel. Keine Jahresangabe. Tichý selbst war Zeit seines Lebens ein «no-name», der Zeit völlig enthoben. Genauso wie die Frauen, denen ich Seite für Seite, Foto für Foto begegne.

Die Abbildungen schweigen mich an. Die Geräusche, das Leben, das spielt sich irgendwo in der Ferne ab. Vor dem Bild ist es jedoch still. Der Blick bleibt an der Oberfläche der Fotografie wie an einer unsichtbaren Wand stehen, die eine Plastizität zu haben scheint. Man ist allein mit sich selbst und schaut zu. Die Gestalten, meist, aber nicht ausschliesslich Frauen, sie wirken selbstvergessen. Völlig aufgelöst in dem Augenblick, in dem sie eingefangen wurden. Die Aufnahmen wirken wie Momentaufnahmen eines bewegten Bildes. Hätte Tichý die Fotografien nicht auf Karton oder ein Blatt Papier geklebt und mit dem Filz- oder Farbstift Linien um sie gezogen, um einen Bildrahmen oder ein Passepartout nachzuahmen, so würde man glauben, Stills eines Stummfilms zu betrachten. So aber besitzen sie selbst eine Körperlichkeit.

Manchmal zog Tichý die Konturen der Figuren nach, um einen Kontrast zum Hintergrund zu verschärfen, entlang einer Mantelarms, entlang des Sandelenbändchens am Fussknochen. Das ist der einzige Eingriff, den Tichý vornimmt. Am Geschehen hinter der Linse nimmt er nicht teil. Diese Distanz ist deutlich zu spüren.

Aufnahmen sonnenbadender Frauen im Zeitalter der #metoo Bewegung als schlicht schön zu bezeichnen, ist sicherlich kontrovers. Doch scheint es auch verkehrt, nicht ausgehend von seinem Werk über Tichý zu schreiben, sondern von der Rezeption und Vermittlung seines Werkes ausgehend Geschichten und Narrative um einen Künstler zu spinnen, die seine Lebensumstände und nicht das künstlerische Werk in den Vordergrund rücken, so kontrovers dieses auch sein mag.

Das vielbeschworene Jahr 2004 steht keineswegs für eine Wende in Tichýs Werk. Es steht für die Entdeckung Tichýs durch Harald Szeemann, die Auslöser für weitere Schauen an renommierten internationalen Häusern war, etwa am Kunsthaus Zürich (2005), dem Museum für Moderne Kunst Frankfurt (2008), der 16. Sydney Biennale (2008) oder dem Centre Pompidou (2008). Wieviel und was sagt diese Entdeckung über den Entdeckten und wieviel über die Entdecker aus?

Tichý Ocean Foundation, Zürich

Im Programmheft des diesjährigen Zurich Art Weekend vernahm ich von der Tichý Ocean Foundation. Stiller Ozean. Ein Spiel mit der Bedeutung des tschechischen Wortes tichý, das still oder leise bedeutet und auf das zurückgezogene Leben des Künstlers in der tiefen Provinz der Kleinstadt Kyjov anspielt, jenseits des Metropole Prag. Ich erfuhr, dass sich hinter dem Namen die von Roman Buxbaum gegründete Stiftung verbirgt, die unter anderem einen Teil des Nachlasses des 2011 verstorbenen Miroslav Tichý widmet. Ich ging hin.

Im Erdgeschoss seines Privathauses an der Lessingstrasse in Zürich, wo Buxbaum auch lebt und seine Praxis für Psychotherapie betreibt, ist eine Art Dependance der 2005 in Prag gegründeten Stiftung entstanden, die anlässlich des diesjährigen Zurich Art Weekends ihre Türen für ein breites Publikum öffnete. After any given time. Harald Szeemann & Miroslav Tichý lautet der Titel der Eröffnungsschau, die ein Remake der ersten internationalen Ausstellung Tichý’s ist, die von Harald Szeemann an der ersten Biennale für zeitgenössische Kunst in Sevilla im Jahr 2004 kuratiert wurde. Der Ausstellungstitel ist dem gleichnamigen Werk Lawrence Weiners entliehen, erklärt Adrian Notz, ehemaliger Direktor des Cabaret Voltaire und Kurator der Tichý Ocean Foundation in Zürich.

Von den ursprünglich 27 von Szeemann für die Sevilla-Ausstellung ausgewählten Werken konnte die Stiftung rund die Hälfte wiederbeschaffen. Die fehlenden Fotos wurden mit anderen ersetzt, die Szeemann damals auf der Shortlist führte. In zwei Schaukästen werden Tichý’s selbstgebastelte Kameras, Linsen oder Vergrösserer gezeigt. Ebenfalls zu sehen ist der von Buxbaum produzierte Film Tarzan retired (2010), in dem einerseits Tichý in seinem Studio in Kyjov porträtiert und andererseits sein internationaler Durchbruch dokumentiert werden.

Der für die Ausstellung titelgebende Schriftzug Weiners wurde ursprünglich 2010 für die Fassade des Familienhauses von Buxbaum in Kyjov entworfen, wo Tichý sein Studio hatte. Nun ist er an der Fassade eines Hinterhofs zu sehen, der sich auf dem Weg vom Erdgeschoss in die höheren Geschosse des Hauses an der Lessingstrasse eröffnet. Zunächst gelangt man in die Praxisräume, wo in den Gängen und Warteräumen Werke der sogenannten Outsider Künstler*innen hängen, u.a. Ida Buchmann, Friedrich Schröder Sternberg oder August Walla. Im obersten Geschoss dann betritt man die privaten Räume von Buxbaum, eine Art Loft mit Küche und Salon, wo Werke international renommierter Künstler zu sehen sind, etwa von Alex Katz, Andro Wekua oder Günther Jörg. Tichý, Weiner, Walla. Wie hängt das alles zusammen?

Die Tichý Ocean Foundation besteht aus drei Sammlungen: 1. Einem Teil des Nachlasses Miroslav Tichý’s, bestehend aus ca. 8000 Fotografien, den von Tichý selbstgebastelten Kameras sowie wenigen Zeichnungen und Gemälden, die in den frühen Jahren seines Schaffens, unmittelbar nach Abschluss der Prager Kunstakademie, entstanden sind; 2. Einer durch Tauschhandel mit Tichý’s Fotografien gegen Werke von bis anhin über 100 internationaler zeitgenössischer Künstler*innen zusammengetragenen Sammlung, die Artists for Tichý – Tichý for Artists genannt wird; 3. Sowie der Sammlung ABCD, die auf Buxbaums Interesse für Outsider Art zurückgeht.

Tichýs internationaler Durchbruch

Als junger Psychiater und Künstler durchforstete und katalogisierte Buxbaum – nach Vorbild Leo Navratils Künstler aus Gugging – die Sammlungen und Bestände der psychiatrischen Kliniken in der Schweiz, um das künstlerische Schaffen von Klinikinsassen zu fördern. Nach einigen Ausstellungen in der Schweiz mit Künstler*innen der Klinik Königsfelden, beauftragte die DuMont Kunsthalle Köln Buxbaum mit dem Ausstellungs- und Buchprojekt «Von einer Welt zur anderen», das 1990 realisiert wurde. Dort wurden zum ersten Mal 20 Fotografien von Tichý gezeigt. Harald Szeemann schrieb einen Text für den Katalog, doch es sollten 15 Jahre vergehen bis er 2004 selbst eine Ausstellung von Tichý kuratierte, den er persönlich jedoch nie treffen sollte.

Als nach Szeemanns Ausstellung in Sevilla internationale Häuser Interesse an Tichýs Werk zeigten, wurde 2005 die Tichý Ocean Foundation in Prag gegründet. Buxbaum kannte den Künstler, der sein Studio im Haus seiner Grossmutter hatte, seit Kindesbeinen an. Wer Buxbaums Film über Tichý gesehen hat, wird leicht nachvollziehen können, weshalb es notwendig schien, Tichý als Menschen und Künstler zu unterstützen. Er engagierte eine Nachbarin, regelmässig nach Tichý zu schauen, der sein Erscheinungsbild und seine Wohnumgebung stark vernachlässigt hatte und kaum für sich selbst sorgen konnte. Später, als der internationale Durchbruch kam, kümmerte Buxbaum sich um die organisatorischen Belange, die mit der Realisierung internationaler Ausstellungen aufkamen und die Tichý selbst kaum zu bewältigen gewusst hätte.

Doch Tichý interessierte das ganze Interesse an ihm nicht. Er hatte sich bereits einige Jahre nach Abschluss der Prager Kunstakademie aus der Kunstwelt zurückgezogen. Er fotografierte zwar obsessiv und schoss am Tag bis zu 100 Fotos, scherte sich jedoch wenig um deren Fortbestand. Er warf sie zu Boden, liess sie von Ratten auffressen oder warf sie im Winter auch mal ins Feuer. Ausstellungen oder gar der Verkauf seines Werks kümmerten ihn kaum. Zu keiner der Ausstellungseröffnungen ging er hin.

Es scheint daher berechtigt, das Ziel der Stiftung, den öffentlichkeitsscheuen Tichý vor dem Rummel der internationalen Kunstwelt zu schützen, auch kritisch zu hinterfragen, hat doch die Stiftung selbst einen wesentlichen Teil zum internationalen Durchbruch Tichýs beigetragen.

Als Anekdote, mit welcher er Tichý überzeugte, sein Werk müsse unbedingt vor dem physischen Verfall bewahrt werden, nennt Buxbaum den Fall Kafka, dessen Schriften zum grössten Teil erst nach seinem Tod und gegen seine letztwillige Verfügung von seinem engen Freund und Vertrauten Max Brod, den Kafka als Nachlassverwalter bestimmt hatte, veröffentlicht worden waren. Tichý jedoch hatte weder eine schriftliche Verfügung hinterlassen noch unterzeichnete Buxbaum zu Lebzeiten Tichýs ein Dokument, die ihn offiziell als Tichýs Nachlassverwalter bestimmt hätte. Ganz im Gegenteil zur Tichýs Nachbarin, die Buxbaum als seine Pflegerin angestellt hatte und die den wohl ahnungslosen Tichý eine Vereinbarung unterzeichnet liess, mit welcher sie sich das Copyright sicherte. Wie Buxbaum rettete auch sie einen beachtlichen Teil der Fotografien vor dem Verfall in Tichýs Studio.

Auch wenn Buxbaum Tichý zweifelsohne menschlich wohlgesinnt war, bleibt die Frage offen, ob die alleinige Tatsache, dass Buxbaum ein Familienfreund und Vertrauter Tichýs war, ihn dazu berechtigt, sich als seinen natürlichen Nachlassverwalter zu verstehen.

Tichýs stille Einzug in den Kunstmarkt

Der wohl umstrittenste Teil der Tichý Ocean Foundation ist die Sammlung Artists for Tichý – Tichý for Artists, die auf dem Tauschhandel von Tichý’s Fotografien gegen das Werk renommierter zeitgenössischer Künstler beruht. Auch hierfür zieht Buxbaum eine Anekdote heran, nämlich die von Arnulf Rainer, der Tichýs in seinem Studio in Kyjov besuchte und dabei ein Werk von ihm kaufen wollte, was Tichý dezidiert und prinzipiell ausschlug und stattdessen einen Tausch vorschlug. Tausch unter Künstler*innen wäre ganz in Tichýs Sinne gewesen, so ist Buxbaum überzeugt. Es sei zudem eine ganz natürliche und oft praktizierter Form der gegenseitigen Unterstützung und Wertschätzung. Doch macht es natürlich einen Unterschied, ob mit dem eigenen Werk oder dem eines anderen Künstlers getauscht wird. Es fragt sich, ob der Werktausch unter Künstler*innen auch für Nachlassverwalter die geeignete und rechtlich fundierte Methode darstellt, die bei der Tichý Ocean Foundation mit der Begründung praktiziert wird, der Tausch wäre ein Ansatz, der Tichý sicherlich näher gestanden wäre als eine bürokratische, akademischen Nachlassverwaltung.

Wie Roman Buxbaum in einem Gespräch erklärt, habe die Stiftung die sich ca. 8000 in ihren Beständen befindenden Fotografien Tichýs verzeichnet. Ein eher kleiner Teil davon soll in jedem Fall in der Stiftung bewahrt werden und stehe nicht zum Tausch oder Kauf zur Verfügung, genauso wie die durch den Tauschhandel inzwischen zu etwa 150 Werken gewachsenen Sammlung internationaler Künstler*innen.

Mittlerweile sind Tichý’s Werke durchaus auch im internationalen Kunsthandel angekommen. Ca. 800 Fotografien sowie wenige Druckgrafiken, Gemälde und Arbeiten auf Papier sind auf Artnet in Umlauf und werden von ca. 6 Galerien gehandelt. Auf welchem Wege genau die Werke in den Kunstmarkt gelangt sind, konnte im Rahmen dieses Artikels nicht erörtert werden. Die Vermutung liegt nahe, dass neben anderen Werkbesitzern auch die ehemalige Pflegerin Tichýs die Fotos in Umlauf brachte. Spannend wäre es, in Erfahrung zu bringen, ob und welchen Anteil daran die Galerien haben, von welchen die internationalen Künstler*innen vertreten werden, die ihr Werk gegen das von Tichý tauschten.

Sogar ehemalige Kuratoren der Tichý Ocean Foundation, Noemi Smolik und Adi Hoesl, bestehen auf die Autorschaft des Sammlungskonzepts. Aufgebracht, dass sie anlässlich einer Ausstellung von 2013 in der Galerie der Mittelböhmischen Region GASK, in Kutná Hora, nicht namentlich als die Initiatoren des Projekts Artists for Tichý - Tichý for Artists genannt wurden, beanstandeten sie auf der Plattform artalk.cz (8.4.2013) weiter, die Pressemitteilung der GASK enthalte die völlig falsche Information, die Sammlung sei von Tichý selbst kreiert worden.

Die tschechische Kunsthistorikerin Milena Bartlová findet gar harsche Worte für den Hype um Tichý. Welcher lebende tschechische Künstler erziele die höchsten Preise auf dem internationalen Kunstmarkt, fragt sie 2011 auf der Plattform artalk.cz (17.2.2011). Dieser gruselige alte Kerl, so Bartlova weiter, dessen unglaublich schlechte Fotos nichts mit Kunst zu tun hätten. Und die Legende über die kommunistische Verfolgung Tichýs sei lächerlich, er wurde verhaftet, weil er ein Spinner war, der Frauen belästigt habe.

Befürwortend oder ablehnend, die kontrovers diskutierte Tatsache, dass Tichý fast ausschliesslich Frauen porträtierte und was mit seinem Werk nach seinem Ableben wohl am besten geschehen möge, begleitet die Vermittlung Tichýs zweifelsohne in einem viel grösseren Ausmass als die kritische Untersuchung der Vermittlung selbst.

Wie konservativ muss Konservierung sein?

Weswegen sind wir überzeugt, dass die physische Anhäufung der Werke in einem Depot, von denen der grösste Teil nur selten das Tageslicht erblickt, die richtige Art der Konservierung darstellt? Könnten der Tausch und die Zirkulation der Werke nicht nur zu einer viel grösseren Sichtbarkeit und Rezeption des Werks führen, sondern auch neue Methoden der Kunstgeschichtsschreibung anregen, die eben nicht entlang der dualistischen Logik zwischen normal/pathologisch, künstlerisch/akademisch, ost-/westeuropäisch, kommunistisch/kunstmarktwirtschaftlich operiert?

Tatsache ist nämlich, dass im kommunistischen Ostblock politische und gesellschaftliche Ausscherer verfolgt wurden und dass Kunst und Kultur bis heute nicht in annähernd gleichem Masse wie im Westen als Ausdruck einer freien, demokratischen Gesellschaft toleriert und von der öffentlichen Hand gefördert werden. Private Initiativen – Museen, Stiftungen – müssen daher nicht zwingend als Gegenteil zum seriösen, institutionellen Schaffen begriffen werden.

Gerade das künstlerische Netzwerk – wie es in der Sammlung Artists for Tichý – Tichý for Artists im Prinzip angelegt ist –, liesse eine transkulturelle Netzwerkanalyse zu, die neue Perspektiven über räumlich-zeitliche Verbindungen erlauben würde sowie Aufschlüsse darüber, welche Narrative sie bedienen und welche sie unterwandern.

In der Publikation, welche die Tichý Ocean Foundation über die Sammlung Artists for Tichý – Tichý for Artists herausgegeben hat, sind jedoch nur ganz allgemeine Texte über die Künstler*innen versammelt, mit welchen Werke gegen jene von Tichý getauscht wurden. Gerade die am wichtigsten und spannendsten scheinende Informationen, nämlich auf welchem Wege die Werke in die Sammlung fanden sowie ob und welche Verbindung zu Tichý und seinem Werk bestand, fehlt. Ob diese Unterlassung als die bewusst kultivierte Nachahmung der künstlerischen Nonchalance zu verstehen ist – die Tichýs vermeintlichem Wunsch nachempfunden ist –; als eine innovative Methode, die neue Einblicke in das Werk Tichý’s bietet oder ob sie für eine grundsätzliche Skepsis der Stiftung für die als bürokratisch empfundene Nachlassverwaltung nach wissenschaftlichen Kriterien zu deuten ist, bleibt zu bedenken.

Der versunkene Tichý

Tarzan retired, Buxbaums Film über Tichý ist das einzige Zeugnis, in welchem der Künstler selbst zu Wort kommt. Er spricht über die Art und Weise, wie er seine Kameras zusammenbaute, wie er sie nutzte, wie er seine Inhaftierungen erlebte und wie er die Welt und die Kunst sah. Jedem, der kein Zyniker ist, dürfte eine fast ehrfürchtige Demut auffallen, die Tichý dem Leben entgegenbringt.

Was denn die die Geschichte der Menschlichkeit sei, fragt Tichý und gibt die Antwort gleich selbst. Eine immerwährende Komposition und Dekomposition, ein stetes Werden und Vergehen. So werde neue Materie, würden neue Welten erschaffen. Doch diese Welt, die sähen wir nie richtig, sie sei nur das Produkt unserer Vorstellung, ein projiziertes Bild der Wirklichkeit. Seine Frauen, die verliebten Paare auf der Sitzbank, die turnenden Menschen im Park, sie scheinen nur Momentaufnahmen des ewig gleichen Prinzips des Lebens zu versinnbildlichen, das Tichý direkt vor seiner Haustür fand. Er selbst entzog sich der ganzen Scharade bewusst und konsequent, beobachtete und hielt alles nur durch die Linse fest.

Er habe nie etwas anderes getan, als die Zeit vorbeigehen zu lassen. Wenn er durch die Stadt ging, so hätte er noch etwas anderes tun müssen, ausser nur zu laufen. So habe er auf den Auslöser gedrückt. “Whatever seemed similar to the world, I printed”.

After any given time. Harald Szeemann & Miroslav Tichý, Tichý Ocean, Lessingstrasse 9, 8002 Zürich

Bis 28.11.2021

(Kommende Ausstellung: 5 Women. Alfredo Jaar. Eröffnung: 10.12.2021)

Bilder: After Any Given Time. Harald Szeemann & Miroslav Tichý, Tichý Ocean Foundation, Zürich, Installationsansichten. Courtesy Tichý Ocean Foundation.

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