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Reading Rämistrasse #39: Cornelius Krell zu Parallel #22: Blanca Blarer: Quiet Noise & Andri Stadler: 2+2 = 5 in der Galerie Mark Müller

Man könnte denken, dass die beiden Ausstellungen kaum etwas miteinander verbindet. Derart unterschiedlich sind die darin versammelten Werke und Gattungen. Doch funktionieren die Arbeiten von Blanca Blarer und Andri Stadler erstaunlich gut nebeneinander.

Blarer entwarf für Quiet Noise insgesamt vier Wandobjekte sowie ein Raummodell und integrierte zudem eine Wandmalerei der Künstlerin Nora Schmidt in ihre Präsentation. Von diesen vier Wandobjekten sind zwei praktisch identisch und bilden Diptychen. Die vier auf Augenhöhe angebrachten Wandarbeiten wirken wie aufgeklappte Bücher, die mit dem Rücken an der Wand befestigt worden sind, sodass sich die Seiten innerhalb eines 180°-Radius in jede beliebige Position bringen lassen. Doch statt aus Papier sind Blarers Objekte aus grauen Holz- und Glasplatten gefertigt, die mithilfe von Scharnieren auf Holzplatten an der Wand montiert worden sind. Ähnlich wie grossformatige Landschaftsgemälde erscheinen die mehrheitlich querformatigen Objekte leicht monumental und spielen überdies mit malerischen Gegensätzen wie Flächigkeit und Tiefe, Transparenz und Opazität sowie Licht und Schatten.

Dabei erinnern die maschinenartig und unpersönlich wirkenden Wandarbeiten aufgrund ihrer Modifizierbarkeit stark an die beweglichen Objekte von Charlotte Posenenske oder Lygia Clark. Je nach Standpunkt der Betrachter*in oder Tageszeit treten uns die Arbeiten anders entgegen. Dadurch erhalten sie eine Art dynamisches Eigenleben, das den Drehflügel-Objekten von Posenenske oder den Bichos von Clark ähnlich ist. Gesteigert wird dieser Effekt zusätzlich noch von der Farbe Grau, die als neutralste und generischste aller Farben den Blick der Betrachter*in weg von der Komposition auf die Konstellation lenkt. Insgesamt aber lassen uns Blarers Objekte ähnlich ratlos zurück wie diejenigen der Minimal Art, die ebenfalls jegliche ausserkünstlerische Referenz verweigern.

Nora Schmidt bespielt auf Einladung von Blarer die vierte Wand mit einer Schriftmalerei, die die Themen der Ausstellung auf literarischer Ebene nochmals aufgreifen: «Die Aussicht, der Blick auf den Horizont – jetzt sichtbar, jetzt in der Dämmerung – liess sie unberührt. // Sie dachte an eine rasende Sonne. An ihr massloses Licht, das zuvor jene Grenze ausgelöscht hatte, die Erdoberfläche und Himmel markiert. // Und sie vermutete, dass es keine Trennung der Dinge gab, sondern nur Unbestimmtheit und Unschärfe.» Diese ebenfalls auf Augenhöhe angebrachten Sätze wirken wie ein Romanfragment, das von einer Frau handelt, die eine Landschaft betrachtet und gleichzeitig die Betrachtung dieser Landschaftsbetrachtung wieder auf einer Metaebene reflektiert. Doch wer mit dieser Frau gemeint ist – die Künstlerin oder die Betrachter*in vor Blarers Werk? – bleibt letztlich offen.

Den Abschluss der Ausstellung bildet schliesslich die Arbeit Dimpse, die ein Modell des angrenzenden Ausstellungsraumes repräsentiert, der von Andri Stadler bespielt wird. Dimpse geht auf die Idee der Künstlerin zurück, den Raum mit Klappwänden zu versehen, um mit möglichst geringem Aufwand variable Raumstrukturen und Lichtkonstellationen zu erzeugen. Dieses nicht realisierte Projekt wird von Blarer mithilfe des Modells veranschaulicht.

Der zweite Raum der Galerie wird von zwei grossformatigen Farbfotografien dominiert, denen Andri Stadler zwei kleine Tuschezeichnungen gegenübergestellt hat, woraus sich ein kontrastreicher Dialog ergibt. Die zwei abstrakten Fotografien verweisen in ihren Titeln auf konkrete geografische Orte, bleiben jedoch durch blutrote Filter, Unschärfe und andere Manipulationen weitgehend abstrakt. Dennoch erinnern die feinen Konturen, Schlieren und Verwerfungen an Wolken- oder Landschaftsformationen. Der Künstler führt damit nicht nur die Abbildfunktion der Fotografie ad absurdum, sondern reflektiert im fotografischen Medium zugleich dessen genuinen Gestaltungsmittel, die auch Blarer mit ihren Objekten thematisiert. Daneben kontrastieren die Fotografien durch ihre stark glänzenden Oberflächen mit den matten Büttenpapieren der Tuschezeichnungen, in denen der Künstler geometrische Formen und abstrakte Strukturen einander durchdringen und überlagern lässt. Der Ausstellungstitel lautet 2+2 = 5 und referiert laut Begleittext auf George Orwells Roman-Dystopie 1984. Stadler deutet ihn hier um und behauptet, dass die gezeigten Werke einen Mehrwert erzeugen, der über ihre einfache Addition hinausgeht. Dies gilt meines Erachtens aber nicht nur für Stadlers Ausstellung, sondern auch für die Doppelausstellung insgesamt. Denn was diese auszeichnet, ist die Erfahrbarkeit elementarer künstlerischer Darstellungsprinzipien aus unterschiedlichen Perspektiven und Medien. Mag also die Kombination der beiden Künstler*innen auf den ersten Blick überraschen, so erscheint sie letztlich durchaus gelungen.

Parallel #22: Blanca Blarer: Quiet Noise & Andri Stadler: 2+2 = 5, Galerie Mark Müller, 16. Januar–3. April 2021

Bilder: Conradin Frei

Reading Rämistrasse

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