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Christopher Kulendran Thomas

FOR REAL

10.06.–10.09.2023

In Zusammenarbeit mit Annika Kuhlmann
und mit Aṇaṅkuperuntinaivarkal Inkaaleneraam

Christopher Kulendran Thomas im Gespräch mit Michelle Kuo während
Zurich Art Weekend 2023

«Wie kann man die Realität eines Konflikts kennen, wenn die Geschichte von den Gewinnern geschrieben wird?»

Vom 10. Juni bis 10. September 2023 zeigt die Kunsthalle Zürich die Ausstellung Christopher Kulendran Thomas: FOR REAL des britisch-tamilischen Künstlers in Zusammenarbeit mit Annika Kuhlmann, mit Aṇaṅkuperuntinaivarkal Inkaaleneraam.

Zentraler Ausgangspunkt von Christopher Kulendran Thomas: FOR REAL ist der gescheiterte Kampf für ein unabhängiges tamilisches Heimatland Tamil Eelam im Nordosten von Sri Lanka. Daran schliesst die Beobachtung an, dass sich mit Ende des Krieges 2009 die internationale Kunstwelt mit Galerien, Museen und einer Biennale in der sri-lankischen Hauptstadt Colombo niedergelassen hat und seither liberale und demokratische Werte nach aussen projiziert.

Die in Zusammenarbeit mit Annika Kuhlmann konzipierte und realisierte Ausstellung erzählt die Geschichte der tamilischen Unabhängigkeitsbewegung und ihres Versuchs, in Sri Lanka eine andere Realität zu schaffen. Sie zeichnet dabei die revolutionäre kreative Szene nach, die durch den Krieg schrittweise ausgelöscht wurde. Die Ausstellung Christopher Kulendran Thomas: FOR REAL ist jedoch weit mehr als das. Indem sie Dokumentation mit spekulativer Science Fiction verbindet, lässt sie die Besuchenden in ein Spiegelkabinett aus Propaganda und Trugbildern eintreten. Sie ähnelt einer algorithmisch generierten Psycho-Operation aus einer anderen, alternativen Realität - nur, dass alles wahr ist.

Der Krieg um Tamil Eelam begann am 23. Juli 1983 mit dem Ausbruch einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen der tamilischen Minderheit und der singhalesischen Mehrheit. Die tamilische Befreiungsbewegung strebte ein Ende der Unterdrückung durch die sri-lankische Regierung sowie die vollständige Unabhängigkeit der tamilischen Gebiete im Nordosten der Insel an. Dieser Krieg – der Höhepunkt eines bereits seit Jahrzehnten andauernden Konflikts – fand 2009 ein brutales Ende. Er kostete unzählige Leben und trieb Hunderttausende zur Flucht in andere Länder, darunter auch in die Schweiz. Heute leben rund 50‘000 Tamilen in der Schweiz, es ist eine der weltweit grössten Tamilen-Diasporagemeinschaften. Ihre Geschichte scheint heute jedoch bereits vergessen.

Kulendran Thomas setzt sich in einer Vielzahl von Arbeiten mit dem Kampf um die Heimat seiner Familie auseinander. Dazu gehört ein Zyklus von Gemälden, der die sri-lankische Kunstszene der Nachkriegszeit verarbeitet, eine Serie von figurativen Keramikreliefs, welche auf die niedergeschlagene tamilische Revolution Bezug nehmen, die zwei immersiven Filminstallationen Being Human (2019) und The Finesse (2022/3) sowie Skulpturen, die aus recycelter Tarnkleidung gefertigt wurden. Unter Verwendung verschiedenster Medien, unterschiedlichster Stile und einer Vielzahl künstlerischer Strategien entwickelt sich so eine Kunst, die sich mit Fragen von Geschichte und Propaganda, von Dokumentation und Fiktion auseinandersetzt. Dabei entsteht eine Kunst, die mehr als einfach nur hinterfragt: Sie ist unterhaltsam, verführerisch, voller künstlerischer Ambitionen, pessimistisch und hoffnungsvoll, distanziert und zutiefst persönlich, utopisch und verzweifelt.

Die unvollendete, blutige Geschichte von Tamil Eelam steht zwar im Zentrum der Aufmerksamkeit und FOR REAL bietet eine wichtige Gelegenheit, sich mit einer jüngeren Geschichte auseinanderzusetzen, aber gleichzeitig geht sie aber viel weiter und stellt die grundsätzliche Frage nach der Geschichte selbst. Wie wird Geschichte geschrieben und von wem? Und werden die Instanzen, die Geschichte schreiben, durch neue Technologien gefestigt oder in Frage gestellt? Welchen Einfluss hat Technologie auf unser Verständnis von Vergangenheit und darauf, wie wir uns informieren? Nutzen wir sie, oder werden wir von ihr benutzt? Wie verändern neue Technologien unser Selbstverständnis? Sind sie Werkzeuge zur Emanzipation oder zur Manipulation? Dabei kommt, wie nebenbei, eine weitere Frage ins Spiel: Welche Rolle spielt die Kunst, kann die Kunst spielen? Soll sie in die Herstellung von Realität eingreifen und wenn ja, zu welchem Zweck? Die Ausstellung bejaht letztere Frage mit Nachdruck, nicht alle werden jedoch damit verstanden sein.

3. Stock: Beginn der Ausstellung

Die Ausstellung in der Kunsthalle Zürich beginnt ausnahmsweise im 3. Stock. Dort sind als erstes eine Reihe von Malereien zu sehen. Sie erinnern an europäische Nachkriegsmalerei, an Antoni Tàpies oder Jean Fautrier, und im Grunde ist auch die Malerei von Kulendran Thomas Nachkriegsmalerei. Sie trägt die Narben einer gewalttätigen Geschichte und ihrer DNA ist, wie so vielen Gemälden, eine dunkle Vergangenheit eingeschrieben. Nicht nur deswegen haben diese Gemälde etwas Unheimliches an sich. Auf den ersten Blick scheinen sie aus einer anderen Zeit zu stammen - einer bestimmten, wiedererkennbaren Zeit - doch je länger man sich mit diesen Gemälden beschäftigt, desto mehr wird klar, dass sie das nicht sein können: bestimmte Pinselstriche wirken in Kombination mit anderen nicht plausibel.

Jenseits der etablierten und dominanten (Kunst)Diskurse verläuft Geschichte nicht linear, sondern ähnelt einem Gewimmel von Rumpferzählungen, wie sie aus den Zentren der Globalisierung exportiert werden. Aber wer weiss, vielleicht lässt sie sich besser verstehen, wenn man sich von den westlichen Vorstellungen und Mythen verabschiedet. Mit Kulendran Thomas' Gemälden wird dieser Mythos algorithmisch abstrahiert. Sie sind aus digitalen PNG-Dateien entstanden, die wiederum mit Hilfe eines neuronalen Netzwerks generiert wurden. Dieses Netzwerk wurde auf die koloniale Kunstgeschichte trainiert, wie sie britische Siedler nach Sri Lanka brachten. Zusätzlich analysierte das Netzwerk stilistische und historische Komponenten, die sich in der Kunst einiger der erfolgreichsten Zeitgenoss:innen von Kulendran Thomas in Sri Lanka widerspiegeln. Es handelt sich um eine Generation, die vom westlichen Kanon beeinflusst wurde, wie er sich ihnen online vermittelte. Aber natürlich interessiert sich der Algorithmus nicht für Geschichte oder für Zeit. Er reproduziert lediglich die Muster. Und wenn das so entstandene, digitale Bild dann von Hand auf die Leinwand gemalt wird, dann wird der Fluss kunstgeschichtlicher Memes von Neuem durch jede der zahllosen Mikroentscheidungen gefiltert, die beim scheinbar intuitiven, «menschlichen» Akt des Malens getroffen werden. Ein Akt, der sich vielleicht gar nicht so sehr von der vorausgegangenen memetischen Filterung durch den Algorithmus selbst unterscheidet. Und in dieser Ungewissheit darüber, wo der Mensch aufhört und alles andere anfängt - das Netzwerk, die Ökologie, die Zirkulation - liegt der wirkliche Schlüssel zur «Weltvorstellung» dieser Ausstellung vergraben.

Ebenfalls im 3. Stock und im gleichen Raum wie dieser Malereizyklus ist die Filminstallation Being Human zu sehen. Sie konfrontiert uns direkt mit der Frage von Weltvorstellung, jedoch durch das Prisma der Menschenrechte und deren Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst. Sie entstand in Zusammenarbeit mit der Kuratorin und Produzentin Annika Kuhlmann und wurde 2019 gedreht – vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch Sri Lankas. Im Kontext einer florierenden Kunstszene, welche humanistische Werte propagiert, nimmt uns Being Human auf eine elliptische Reise durch Sri Lanka auf dem Höhepunkt seines kurzlebigen Wirtschaftsbooms. Dabei werden die Besucher:innen vom norwegisch-tamilischen Künstler Ilavenil Jayapalan begleitet, sie begegnen Gästen der Kunstbiennale in Colombo, darunter einige algorithmisch generierte Berühmtheiten und treffen auf den Onkel von Kulendran Thomas, der während des Krieges ein Zentrum für Menschenrechte in Tamil Eelam gegründet hat. Gemeinsam überlegen die Figuren, wer und was dieser «Mensch» ist, der durch die Menschenrechte geschützt wird und spekulieren darüber, woher er kommt. Ist dieser Mensch eine Fiktion des Westens? Gibt es eine Alternative?

2. Stock: Fortsetzung der Ausstellung

Einen Stock tiefer bietet die Ausstellung Christopher Kulendran Thomas: FOR REAL Einblicke in eine solche alternative Realität, die sich aus einem gänzlich anderen kunsthistorischen Kontext ableitet: Besuchende treffen hier auf eine Auswahl bemalter Keramikreliefs und menschenähnlichen Wesen in Tarnumhängen des mysteriösen Aṇaṅkuperuntinaivarkal Inkaaleneraam, den Kulendran Thomas als eine führende Persönlichkeit des künstlerischen Widerstands der Tamilen beschreibt. Die bemalten Keramiken setzen das Erbe der revolutionären tamilischen Kunst fort, deren Geschichte mit der Vernichtung des De-facto-Staates Tamil Eelam ausgelöscht wurde. Aṇaṅkuperuntinaivarkal Inkaaleneraam verbindet die indigene Kosmologie mit einer Ergründung von Sexualität jenseits westlicher Binaritäten, er bezieht sich dabei auf alte tamilische Sangams und findet Anklänge an den sozialistischen Realismus. Aber wer ist Aṇaṅkuperuntinaivarkal Inkaaleneraam?

Viele der an der Revolution beteiligten Kunstschaffende, die unter anderem zeitweise in der Sowjetunion ausgebildet wurden, arbeiteten unter Pseudonymen und im Verborgenen. The Finesse, am Ende dieser Ausstellung, erzählt von dieser versteckten kreativen Szene und der Vision für eine andere Gesellschaft. Diese neueste Videoinstallation, die ebenfalls in Zusammenarbeit mit Annika Kuhlmann entstand, ergründet das verlorene Vermächtnis der tamilischen Unabhängigkeitsbewegung. Teile des Ausstellungsdesigns basieren auf Architekturzeichnungen; sie zeigen Entwürfe für eine pluralistische Stadt, die aus nachhaltig angepflanztem Holz gebaut werden sollte. Ein visionäres Vorhaben, für das ein Wald aufgeforstet wurde, welcher auf der wandfüllenden Projektion zu sehen ist. Teils gefilmt, teils computergeneriert (da Teile dieses Waldes unzugänglich von der sri-lankischen Armee besetzt sind), birgt dieser Wald historische Stätten, die heute von der archäologischen Task Force der sri-lankischen Regierung «geschützt» werden. Viele Tamilen sehen darin jedoch eine Besetzung der tamilischen Regionen im Nordosten Sri Lankas: Unter dem Vorwand und mit der «Waffe» der Archäologie soll der Anspruch der Tamilen auf ihr Heimatland «untergraben» werden.

Die Konstruktion einer mehrdimensionalen historischen Realität, Fiktion und Spekulation bildet den Ausgangspunkt für The Finesse. Geführt von der tamilischen Tänzerin und Filmemacherin Asmina Thirunavukarasu und begleitet von einem Soundtrack mit der Stimme der im Exil lebenden Revolutionärin Vasuky Vakay Jayapalan, eröffnet The Finesse Perspektiven auf die tamilische Unabhängigkeitsbewegung. Der Film ermöglicht Blicke auf den Versuch, der sri-lankischen Regierung zu trotzen und mit Hilfe des gerade erst im Entstehen begriffenen World Wide Web eine autarke, computergestützte, genossenschaftlich organisierte Wirtschaft aufzubauen, die auf erneuerbaren Energien und Gemeinschaftseigentum beruhen sollte.

The Finesse ist eine immersive und anspruchsvolle Filminstallation, die Popkultur und Politik mit Archivbildern und computergenerierten Avataren verschmelzen lässt und den Ausstellungsraum in eine architektonische, physische und intellektuelle Halluzination verwandelt. Kulendran Thomas greift dabei nicht direkt die aktuell heiss geführten, spaltenden Kulturkampfdebatten der Gegenwart auf, sondern wirft stattdessen durch das Prisma einer anderen Zeit und eines fernen Ortes den Blick auf die gesellschafts-politischen Systeme, die unser polarisiertes politisches Klima prägen. The Finesse verwischt die Grenzen zwischen historischer Forschung, Science Fiction und einem Entwurf für eine andere, alternative Realität und zeigt, wie Kunst, Architektur und Technologie auch heute noch radikale neue Möglichkeiten und Ideen hervorbringen können – utopisch und pragmatisch.

Christopher Kulendran Thomas: FOR REAL wurde in Zusammenarbeit mit dem Institute of Contemporary Arts, London, der Kunsthalle Zürich und dem KW Institute for Contemporary Art, Berlin produziert. Ein besonderer Dank geht an Stefan Kalmár und Francesco Manacorda. Die Ausstellung wurde grosszügig unterstützt von der Filecoin Foundation, der Filecoin Foundation for the Decentralized Web und des Medienboard Berlin-Brandenburg. Mit bestem Dank an Samir Bantal, OMA|AMO, satis&fy, Adam Hall Group und OCA Norway.

Eine frühere Version der Ausstellung im KW Institute for Contemporary Art, Berlin, wurde von AICA Deutschland (die deutsche Sektion des Internationalen Kunstkritikerverbands, Association Internationale des Critiques d'Art) als «besondere Ausstellung 2022» ausgezeichnet.

Christopher Kulendran Thomas ist ein Künstler tamilischer Abstammung. Er ist in London aufgewachsen, nachdem seine Familie Sri Lanka wegen zunehmender ethnischer Repressionen das Land verlassen hatte. Er verfolgte, wie in Sri Lanka eine aufstrebende zeitgenössische Kunstszene aus den Ruinen ethnischer Säuberungen entstand und begann, die strukturellen Prozesse zu untersuchen, durch die Kunst Realität erzeugt. Im Atelier des Künstlers, der Technologien aus verschiedensten Bereichen nutzt, fliesst das Wissen von Spezialist:innen, Architekt:innen, Schriftsteller:innen, Journalist:innen, Designer:innen, Musiker:innen und Aktivist:innen aus der ganzen Welt zusammen. Kulendran Thomas' Arbeiten sind u.a. in der Sammlung des MoMA in New York vertreten. Einzelausstellungen fanden im KW Institute for Contemporary Art, Berlin (2022) statt, im Institute of Contemporary Arts, London (2022), im Schinkel Pavillon, Berlin (2019), im Institute for Modern Art, Brisbane (2019) in Spike Island, Bristol (2019) und in der Tensta konsthall, Stockholm (2017). Kulendran Thomas' Werk wurde an der Front Triennial, Cleveland (2022), gezeigt, an der 7th Bi-City Biennale, Shenzhen (2017), der 11th Gwangju Biennale; 9th Berlin Biennale und am 3rd Dhaka Art Summit (alle 2016). Zur Zeit ist es an der 5th Timișoara Biennial zu sehen.

Christopher Kulendran Thomas spricht über seine Ausstellung für Vernissage TV.

Presseinformationen

Für Bildanfragen, Informationen zum Ausstellungsprogramm und Interviews kontaktieren Sie bitte Aoife Rosenmeyer: presse [​at​] kunsthallezurich.ch oder +41 (0)44 272 15 15
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