Pippa Garner
Act Like You Know Me
Die Kunsthalle Zürich präsentiert nach dem Kunstverein München die erste Einzelausstellung der Künstlerin Pippa Garner in Europa, die einen fragmentarischen Einblick in ein mehr als 50 Jahre umfassendes Werk bietet. Die Ausstellung wird co-kuratiert von Fiona Alison Duncan, Schriftstellerin in New York, Maurin Dietrich, Direktorin Kunstverein München und Daniel Baumann, Kunsthalle Zürich, in Zusammenarbeit mit Otto Bonnen, Assistenzkurator Kunsthalle Zürich, und Miriam Laura Leonardi, Künstlerin. Die Ausstellung ist eine Übernahme und Erweiterung der im Kunstverein München 2022 gezeigten Ausstellung.
Die 1942 im Chicagoer Vorort Evanston geborene US-amerikanische Künstlerin und Autorin, früher unter dem Namen Philip Garner bekannt, wehrt sich gegen Systeme des Konsums, des Marketings und der Verschwendung, und hat in ihrer (1) fünf Jahrzehnte langen Karriere ein dichtes Werk geschaffen, das Zeichnung, Performance, Skulptur, Video und Installation umfasst. Ihre kompromisslose Herangehensweise an ihr Leben und ihre künstlerische Arbeit hat es ihr ermöglicht, mit den Bereichen Illustration, Editorial, Fernsehen und Kunst zu interagieren, ohne sich ihnen je ganz zu verschreiben.
Die Anfänge von Garners künstlerischer Praxis lassen sich auf ihre Zeit als Combat Artist der US-Armee im Vietnamkrieg und die unmittelbar darauffolgenden Jahre zurückführen. Als Garner gerade am Fliessband in einer Autofabrik arbeitete, wurde sie eingezogen und 1966 als Fusssoldat:in nach Vietnam geschickt, als die Vereinigten Staaten ihre Präsenz im Ausland ausweiteten und zehntausende junger Amerikaner:innen pro Monat zwangsweise rekrutierten. Zufällig wurde Garner der 25. Infanteriedivision zugeteilt, der einzigen Division mit einem Combat Art Team (CAT).Als sie von diesem Programm erfuhr, das Soldat:innen und zivile Künstler:innen damit beauftragte, den Krieg in Form von Skizzen, Illustrationen und Malereien zu dokumentieren, die von der US-Armee für die (in ihren Worten) «Annalen der Militärgeschichte» gesammelt werden sollten, handelte Garner sich einen Platz im CAT-Team aus. Diese Aufgabe hat sie vor direkten Kampfeinsätzen bewahrt, wenn auch nicht vor den langfristigen Folgen des Krieges – im Jahr 2010 wurde bei Garner eine chronische lymphatische Leukämie diagnostiziert, eine Krebserkrankung, die durch den Kontakt mit dem chemischen Entlaubungsmittel Agent Orange verursacht wurde. Garner überbrückte ihre Zeit in Vietnam auch mit einer für sie neuen Kunstform: der Fotografie. Mit hochmodernen japanischen Kameras, die sie in Saigon gekauft hatte, begann Garner, bei jeder Gelegenheit Fotos zu machen. Diese Bilder zeigen bereits eine Obsession für Themen, die Garner Zeit ihres Lebens und ihrer Karriere beschäftigen sollten – darunter Verkehrsmittel, Architektur, städtische Zeichen, satirische und sinnliche Selbstporträts, Mode sowie (Haus-)Tiere.
Nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten nahm Garner ihr Studium am renommierten Department für Transportation Design am ArtCenter in Kalifornien wieder auf und plante, Autodesignerin zu werden. Sie wurde jedoch schnell der Hochschule verwiesen, als sie 1969 ihr Projekt Kar-Mann (Half Human Half Car) vorstellte – eine zentaurenähnliche Skulptur, welche die vordere Karosserie eines silbernen Autos in Kombination mit der unteren Hälfte eines nackten Menschen zeigt, dessen Bein wie bei einem urinierenden Hund vom Körper gestreckt ist. Der glatte und bleiche Körper verweist scheinbar auf eine Cis-Frau, wären der Penis und das Skrotum nicht so detailliert dargestellt.
Wie die meisten von Garners Kunstobjekten – hunderte von Skulpturen, Wandarbeiten, Designobjekten und Kleidungsstücken, die sie zwischen den späten 1960er und frühen 2010er Jahren schuf –, wurde Kar-Mann (Half Human Half Car) weder archiviert noch gesammelt. Die Skulptur wurde von der Künstlerin zuletzt in den frühen 1970er Jahren gesichtet, wobei ihr Status und Verbleib unbekannt sind. Was heute von Garners erstem intendierten Kunstwerk übriggeblieben ist, sind Fotos, die von der Künstlerin selbst inszeniert und aufgenommen wurden.
Die Fotografie war Garners Einstieg in eine künstlerische, wenn auch kommerzielle Praxis. Nach ihrem Rauswurf aus dem ArtCenter blieb Garner in Los Angeles und arbeitete in einer Spielzeugdesignfirma. In ihrer Freizeit fuhr sie mit dem Fahrrad durch die sich immer weiter ausbreitende Stadt und fotografierte. Auf Garners Strassenszenen sind selten Menschen zu sehen. Was zu sehen ist, sind vielmehr skurrile DIY-Designs und menschliches Designversagen, darunter Autos im Zustand des Verfalls sowie provokante und humorvolle Stossstangenaufkleber und Ladenschilder. Als ein Kollege in der Spielzeugdesignfirma ihr Portfolio sah, schlug er Garner vor, ihre Fotografien dem Magazin West vorzustellen, der neuen Sonntagsbeilage der Los Angeles Times. Das progressive Magazin, das für seine künstlerische Ausrichtung bekannt war, begann unmittelbar mit der Veröffentlichung von Garners Arbeiten. Somit wurde ein Weg für sie bereitet, der bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts andauern sollte,als das Internet die bis dahin den Printmedien zugewiesenen Werbebudgets fast gänzlich absorbierte und damit auch die Möglichkeit, ihren Mitarbeiter:innen ein existenzsicherndes Gehalt zu zahlen.
Garners Arbeiten für Zeitschriften – von Esquire, Rolling Stone, Vogue, Playboy und Wet bis zu Car & Driver und Arts & Architecture – haben einen ambivalenten Status als Kunstwerke. Zunächst im kommerziellen Kontext eines populären Magazins veröffentlicht, lagen den Fotografien, Illustrationen, Performances und Skulpturen, die Garner für diese Zwecke schuf, konzeptuelle Ideen zugrunde. Garner entwickelte ihre Arbeiten mit wenig oder völlig ohne redaktionellen Eingriff. Dadurch, dass sie nie etwas verkaufte, sondern vielmehr die Idee des Verkaufs von Dingen durch satirische Reflexionen über Konsumverhalten und das zeitgenössische amerikanische Leben dekonstruierte, wurde eine ernsthafte Kontextualisierung ihrer Arbeiten als Kunst verhindert: «Es gab eine solche Trennlinie», erklärt Garner, «zwischen allem, was kommerziell ist und der bildenden Kunst». Garner war von diesen Vorbehalten enttäuscht, aber zugleich von dem Massenpublikum begeistert: «Es wurde zu einer Obsession», erinnert sie sich, «Dinge in Printmagazinen zu veröffentlichen, wo Tausende von Menschen sie sehen konnten.» Eines von Garners bedeutendsten Werken, der Backwards Car (1974), wurde vom Magazin Esquire ermöglicht, das sich bereit erklärte, für einen gebrauchten Chevrolet zu zahlen. Dessen Karosserie wurde von Garner – die die gesamte mechanische Arbeit selbst ausführte – vom Fahrgestell abgenommen, umgedreht und wieder befestigt, sodass das Auto rückwärtszufahren schien, obwohl es sich vorwärts bewegte. Die berühmtesten Fotos des Projekts zeigen das Auto, wie es sich im dichten Verkehr über die Golden Gate Bridge in San Francisco bewegt.
Aktionen wie das Backwards Car zogen die Aufmerksamkeit anderer Künstler:innen und der Kunstwelt auf sich. In den 1970er und frühen 1980er Jahren erweiterte sich Garners Freundeskreis um Künstler:innen der Westküste wie Ed Ruscha, Chris Burden und das radikale Kunst- und Designkollektiv Ant Farm, mit dem Garner zusammenarbeitete. Die Malerin Nancy Reese war eine weitere Wegbegleiterin und wichtiger Einfluss. Durch ihr Studium der bildenden Kunst brachte Reese – zugleich Garners künstlerische und romantische Partnerin – sie in Kontakt mit der zeitgenössischen Kunstszene und -institutionen. In diesen Kreisen sah Garner erstmals die Möglichkeit sich als Künstlerin zu begreifen.
Die beiden arbeiteten häufig zusammen und Reese stand für viele von Garners Fotografien Modell, während Reese ihre Partnerin im Gegenzug malte. Das Paar stellte gleichzeitig in lokalen Kontexten sowie in bedeutenden nationalen Institutionen aus: gemeinsam im Whitney Museum of American Art in New York (1980) und im Museum of Contemporary Art in Los Angeles (1984); jeweils einzeln im Los Angeles Institute of Contemporary Art (Garner 1980, Reese 1981); Garner im Victoria and Albert Museum in London (1984) und erneut im MOCA in Los Angeles (1985); und Reese in der Gagosian Gallery in Los Angeles (1986, 1987). Zu dieser Zeit genoss Garner auch die Aufmerksamkeit eines grösseren Publikums und ihre Arbeiten in Magazinen entwickelten sich zu drei Buchverträgen: Philip Garner’s Better Living Catalog (1982), Utopia or Bust: Products for the Perfect World (1984) und Garner’s Gizmos & Gadgets (1987). Die PR für diese Bücher führte zu Fernsehauftritten in Talkshows, insbesondere in der Tonight Show Starring Johnny Carson, in der Garner ihren berühmten Half-Suit (1982) trug.
Bereits 1984 hatte Garner mit dem «Gender-Hacking» begonnen, indem sie sich auf dem Schwarzmarkt mit Östrogenen versorgte. Später beschrieb sie diese Entscheidung als einen Aha-Moment: «In meiner früheren Arbeit habe ich immer Objekte verwendet, die Konsumgüter waren, also Dinge, die vom Fliessband kamen. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages in den Spiegel schaute – das war in den 80er Jahren – und dachte: ‚Hey, auch ich bin ein Objekt. Ich bin einfach ein weiteres Gerät.‘» Für Garner war Geschlecht das Fundament der Verbraucher:innenidentität, während der Körper eine Technologie war, die sich nicht so sehr von einem Auto unterschied. Warum sollte sie ihre eigene Anatomie nicht auch umkehren, so wie sie es mit dem 1959er Chevy getan hatte?
«Das Konzept der Geschlechtsumwandlung als eine Form der Verbraucher:innentechnologie begann mich zu faszinieren», schrieb Garner 1995 in einem Tagebucheintrag. Im selben Jahr gab sie eine Kontaktanzeige in einer Lokalzeitung in San Francisco auf, in der stand: «Post-op (I did it for art)». Bei diesem Slogan kommt allerdings die Intensität der Transition zu kurz: Garners Geschlechtsumwandlung war in Wirklichkeit ein jahrzehntelanger Prozess, der von Neugier, Intuition und Begehren angetrieben war. Ein persönliches und kulturelles Experiment, das von der Unsicherheit und dem Risiko geprägt war, die der damaligen wissenschaftlichen Methode innewohnten. Erst später würde sie diesen Prozess als künstlerische Arbeit bezeichnen.
Garner fühlte sich nie «im falschen Körper geboren». Als sie mit der Hormontherapie begann, gab es keine weit verbreiteten Konzepte und Begriffe für die verschiedenen Zwischenstufen von Geschlecht und die Menschen, die sich in diesen befanden. Wie sie es ausdrückte, «man musste über den Zaun springen». Und das tat sie auch: Von einem Binärsystem (als Phil hatte sich Garner als hypermännlich inszeniert) zum anderen (einige Jahre lang versuchte sie, als High Femme zu leben), um dann irgendwo in der Mitte zu landen, d. h. die Grenze ganz und gar zu dekonstruieren. Für jemanden wie Garner gibt es heute Begriffe wie nonbinary, genderqueer und transgender (Garner mag das Wort transgender, zieht jedoch den alten Begriff der Androgynie dem moderneren nonbinary vor). In den 1980er und frühen 1990er Jahren wurde Garners Herangehensweise an die Geschlechtsumwandlung oft missverstanden, was dazu führte, dass sie sowohl von alten Freund:innen, die «Phil» vermissten, als auch von manchen Mitgliedern der LGBTQ+-Community isoliert wurde. Diese warfen Garner eine vermeintlich respektlose Beziehung zu Geschlechterfragen vor und empfanden ihr Agieren als Spott.
Garner hatte jedoch auch immer viele Verbündete: Sie wurde weiterhin von Redakteur:innen als Illustratorin für Zeitschriften engagiert und gestaltete die Rückseite des Los Angeles Magazine und später von Car & Driver. Nachdem sie Los Angeles verlassen hatte, um in die queere Bastion San Francisco und die Bay Area zu ziehen, nutzte sie persönliche Anzeigen in lokalen Zeitungen und Auftritte im Radio als Ausdrucksform. Ausserdem dokumentierte sie jeden Aspekt ihrer Transition fotografisch sowie schriftlich, nahm intime Selbstporträts auf, führte Tagebuch und sammelte juristische Dokumente und Korrespondenzen mit ihren Therapeut:innen und Chirurg:innen (sie bezeichnet ihre zahlreichen Eingriffe als «Zusammenarbeit» mit diesen Ärzt:innen).
Während dieser Zeit veränderte sich zugleich Garners Beziehung zu Autos: Schon immer ambivalent – kritisch und doch von ihnen besessen – dekonstruierte sich 1990 ihre Verbindung zu ihnen. Ein Beispiel dafür ist Protect the Innocent, ein leuchtend gelber Toyota aus den 1960er Jahren, von dem sie so viel von der Karosserie entfernte, wie möglich (hierbei handelt es sich um eines der wenigen grossformatigen Werke Garners, die noch existieren und im Besitz des Künstlers Paul McCarthy ist). Für ihre letzte künstlerische Arbeit mit einem herkömmlichen Auto (sie würde weiterhin Autos zeichnen) beantragte Garner 1995 das Sonderkennzeichen «SX CHNGE», was jedoch vom Department of Motor Vehicles abgelehnt wurde, das ihr mitteilte: «Die beantragte Kennzeichenkonfiguration könnte von einigen Bürger:innen als beleidigend oder irreführend angesehen werden.» Garner beantragte daraufhin das Nummernschild «HE2SHE» und erhielt dafür eine Genehmigung. Dies waren künstlerische Arbeiten und Gesten. Was jedoch die persönliche Nutzung betraf, hatte Garner schon seit den 1990ern das Autofahren gänzlich aufgegeben und bewegte sich mit komplex modifizierten Fahrrädern fort. Die Ölindustrie, die Kriege im Ausland, die Entfremdung in den Vorstädten und die Verschwendung von Land anprangernd, kam Garner zu dem Schluss, dass sie es schlichtweg vorzog, ihren eigenen Körper als Motor und Treibstoff zu nutzen.
Während Garner auf lokaler und persönlicher Ebene sehr produktiv war, war ihre professionelle Kunstkarriere von 1986 bis 2014 praktisch nicht existent. In diesen Jahren stellte sie nur ein einziges Mal aus, nämlich 1997 im Kontext von Hello Again!, einer Ausstellung über Recycling-Kunst im Oakland Museum in Kalifornien. Dieses vorübergehende Exil ist nicht nur auf die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bzw. dessen Umwandlung zurückzuführen. Auch Garner selbst hatte in dieser Zeit nicht nach institutionellen Möglichkeiten gesucht, noch wurde sie von Kurator:innen und anderen Künstler:innen als Teil des Museums- und Galeriesystems anerkannt. Ein Zusammenwirken kultureller Veränderungen bereitete die Basis für Garners jüngste Rückkehr in den Kunstbetrieb. Nicht nur das Aufkommen eines neuen, expansiveren queeren und feministischen Bewusstseins, sondern auch das Internet und die sozialen Medien haben die Grenzen zwischen verschiedenen Disziplinen weiter aufgelöst und eine Generation beeinflusst die sich von Garners eklektischen, transdisziplinären Manifestationen nicht beirren liess.
Die Ausstellung Act Like You Know Me zeichnet Garners Leben in ständiger und obsessiver Auseinandersetzung und Produktion von Kunst nach. Rückblickend erscheinen ihre umfangreichen Werke als eine zusammenhängende konzeptionelle Praxis – unabhängig davon, ob sie zuerst in einer Zeitschrift, einem Buch, einer Lokalzeitung, im Fernsehen, in einer Galerie, einem Museum, auf der Strasse, an ihrem Körper oder in der Privatsphäre des häufig einsamen Lebens von Garner veröffentlicht wurden.
Garner als Konzeptkünstlerin zu kontextualisieren ist nicht neu. In seinem 2006 erschienenen Buch Full Moon reflektiert der Künstler Paul Ruscha (der Bruder von Ed Ruscha) über die Kunstwelt der 1980er Jahre in Los Angeles und schreibt, dass Garner «von allen als das verrückte Genie der Konzeptkunst angesehen wurde». Während frühere Ausstellungen dazu tendierten, sich auf die Materialität von Garners satirischen Konsumvorschlägen und ihre Person als «Erfinderin» oder «Absurdistin» zu konzentrieren – d.h. sie auf Formen und Stereotypen zu reduzieren, die ihr vom Verlagswesen und dem kommerziellen Kunstmarkt des 20. Jahrhunderts aufgezwungen wurden –, zielt Act Like You Know Me darauf ab, Garner in der Tradition der Konzeptkunst zu positionieren. Wie sie der Autorin und Ko-Kuratorin dieser Ausstellung Fiona Alison Duncan erzählte, war die Bezeichnung «Erfinderin» ein Begriff, der Garner zugeschrieben wurde und ihr nicht besonders gefiel. «Mein Verhalten», schrieb sie in eines ihrer vielen Notizbücher, «ist eine Reflektion der Kultur». Die zyklische Eigenschaft der materiellen Welt und das Geheimnis der Immaterialität bilden das eigentliche Zentrum von Garners Praxis. Das äussert sich in ihrer Verwendung von gefundenen oder recycelten Materialien und ihrer Gewohnheit, ihre Arbeiten zu zerstören, weiter zu verwenden oder zu verschenken. Der Backwards Car wurde geschreddert. In den meisten Fällen hat sie eine Bezahlung für ihre Kunst abgelehnt. Selbst ihre «Erfindungen» – raffinierte Konsumgüter, die sie einmalig als Objekt fabrizierte, um sie anschliessend zu fotografieren oder als einfachen Pitch zu illustrieren – waren nie für die Massenproduktion bestimmt. Ihre Produkte, die in Form von Versandkatalogen ohne Kaufformulare veröffentlicht wurden, spiegelten die Absurdität und die Verschwendung von Überproduktion und Überkonsum wider. Die Ideenfindung, die essenziellste Phase des Kunstschaffens und des Konsums, wird von Garner in den Mittelpunkt ihrer Praxis gerückt. Die wenigen Produkte, die Garner entwarf, waren in der Regel solche, die man selbst herstellen konnte, wie z. B. der Half-Suit und andere Modeartikel, die seither in ähnlicher Form in Kollektionen der Haute Couture aufgetaucht sind.
Ein Blick in Garners asketisches Privatleben und ihre berufliche Unentschlossenheit offenbart eine rigorose Abkehr von bürgerlichen Konventionen, einschliesslich dem Konzept eines binären Geschlechts. Ihre Transition ist eine weitere Manifestation ihrer experimentellen Haltung, ihrer transpersonalen Identität, ihres Humors und ihrer tiefen Verbundenheit mit der Vergänglichkeit des materiellen Lebens. Garners Praxis befasst sich mit der Veränderung von Materialien aus der Massenproduktion, einschliesslich vielfältiger hergestellter synthetischer Hormone, plastischer Chirurgie und Kosmetik. Bei aller Satire in Bezug auf das Geschlecht, die Garners multiplen Selbstinszenierungen dient, negiert sie nicht die Erfahrungsrealität der Sexualität oder der Geschlechtsidentität, sondern erfreut sich vielmehr an der Vielfältigkeit von und Ermächtigung durch Selbstbestimmung. Sie verweist spielerisch auf Stereotypen und die damit verbundenen Geschlechterrollen – auf einem ihrer ersten Slogan-T-Shirts heisst es: «Ich wäre schöner, aber mir ist das Geld ausgegangen».
Garner spielt in und mit dem Abfall des Kapitalismus, von Druckerzeugnissen von Magazinen bis hin zu gebrauchten T-Shirts. Ihre persönlichen und künstlerischen Entscheidungen sind dabei bemerkenswert nachhaltig. Sie hat sich durch solche Gesten dazu entschieden, ihre kritische Haltung als Teil der Gesellschaft zu artikulieren. Anders als viele Künstler:innen hat sie als Antwort auf ihre Kritik die Gesellschaft nie gänzlich verlassen: Mit dem Fahrrad fahrend und Kunst aus Abfällen machend ist Garner entschlossen, die Kultur, in der sie lebt, zu verändern. Dies ist die Hippie-Ethik der kalifornischen Counterculture, die ins 21. Jahrhundert übertragen wurde – eine Ethik, die die meisten Menschen aus Garners Demographie schon vor langer Zeit zugunsten einer Kompliz:innenschaft mit dem Finanz- und Konsumkapitalismus aufgegeben haben.
Ungeachtet ihrer antimaterialistischen Überzeugung hatte Garner glücklicherweise genügend Verbindung zur Welt, um ein Archiv ihres Lebenswerkes in Form von Dias, Zeichnungen, ausgewählten Kleidungsstücken und Ephemera zu bewahren. Aus diesen Materialien besteht die Ausstellung Act Like You Know Me, die einen Überblick über Garners Schaffen von den späten 1960er bis zu den frühen 2000er Jahren zeigt, wobei der Schwerpunkt auf den zahlreichen Fotografien der Künstlerin liegt, die sowohl den Status eines autonomen Werks als auch einer Dokumentation ihrer Praxis haben.
Text: Fiona Alison Duncan
Act Like You Know Me war vom 24. September–13. November 2022 in der Kunstverein München und wird anschliessend im 49 Nord 6 Est – Frac Lorraine in Metz von Februar bis September 2023 zu sehen.
Mit freundlichem Dank an David Matorin.
(1) Die Pronomen sie/ihr werden in diesem Text in Bezug auf Garner durchgängig verwendet, da dies ihre aktuellen Pronomen sind. Es wäre jedoch genauso korrekt und würde Garners Geschlechtsidentität respektieren, wenn man je nach Zeit in Garners Leben zwischen er/ihm und sie/ihr wechseln oder die Pronomen they/them verwenden würde.
Pippa Garner selbst benutzt den Namen Phil/Philip. Es ist kein toter Name (dead name), die Künstlerin betrachtet ihr «früheres Leben» oder ihre «frühere Identität», wie sie es nennt, mit Zuneigung. Sie ist androgyn, nicht-binär und genderqueer in ihrem Trans-Sein, nicht jemand, die glaubt, im falschen Körper geboren zu sein, dem falschen Geschlecht zugeordnet zu sein oder bei der Geburt den falschen Namen erhalten zu haben.