Lutz Bacher
Snow
Seit den frühen 1970er Jahren stellt die aus Kalifornien stammende Künstlerin Lutz Bacher (lebt und arbeitet in New York) die Medialisierung und Kommerzialisierung individueller und kollektiver Lebensentwürfe sowie geschlechtlicher als auch gesellschaftlicher Identitätsmodelle in Frage, indem sie deren bekannte Erscheinungsformen entfremdet und dekonstruiert. Folgerichtig hält sie seit Beginn ihres künstlerischen Schaffens ihre eigene Identität hinter einem irreführenden und trügerisch männlichen Pseudonym verborgen und ihre Auftritte in der Kunstöffentlichkeit sind rar. Mit «SNOW» zeigt die Kunsthalle Zürich eine Ausstellung, in der die Künstlerin eine Übersicht ihrer Arbeiten seit den 1970er Jahren bis heute in das Ensemble einer eigens für die Präsentation geschaffenen Gesamtinstallation integriert.
Das Œuvre von Lutz Bacher entzieht sich jeglicher Kategorisierung oder Typologisierung und lässt vielmehr Raum für facettenreiche Deutungen. Mit ihren fotografischen Arbeiten, den skulpturalen Ensembles, Videoarbeiten und Installationen bringt sie vermeintlich vertraute Bilder, die sich in einem kollektiven Verständnis verankert haben, ins Wanken. Durch Neuordnungen, Verzerrungen, Fragmentierungen, Entfremdung und Abstraktion lässt sie Bilder und Objekte neu interagieren und macht so Zusammenbrüche und Widersprüche unserer gesellschaftlichen Konventionen und medialer Fiktionen erfahrbar. Themen wie Identität, deren Bildung und Austauschbarkeit – sei es im Bezug auf die eigene Person oder von der Populärkultur propagierte Berühmtheiten –, Gemeinschaften und ihre losen Netzwerke, der menschliche Körper, Sexualität sowie Materialität stehen dabei im Zentrum.
Bacher bedient sich konsequent populärer Quellen – u.a. zweifelhafter Sexhandbücher, Schundliteratur, Gossip-Kolumnen, Selbsthilfeanleitungen und appropriiert Paparazzi-Fotos. In ihrer Aneignungsstrategie spielen die vorgefundenen Verbindungen von Bild und Text, die so transportierten Deutungsmöglichkeiten und Irritationen eine wichtige Rolle. In The Lee Harvey Oswald Interview (1976) collagiert die Künstlerin fotokopierte Fotografien des mutmasslichen Mörders John F. Kennedys mit einem Frage-Antwort-Interview. Das Gespräch, das die Künstlerin mit sich selbst unter dem Namen des Attentäters führt, dreht sich jedoch nicht, wie es der Titel der Arbeit suggeriert, um Oswald, das Attentat oder die Mythologisierung amerikanischer Verschwörungstheorien, sondern thematisiert das Medium Fotografie, Geschichte und die Unmöglichkeit, Wahrheit in einem Bild bzw. einem Text zu finden. Diese Gedanken sind auch in den grossformatigen Arbeiten der Jokes Series (1987–1988) ausmachbar. Sie zeigen schwarzweisse Pressefotos von verschiedenen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus den 1970er Jahren – etwa wie hier in der Ausstellung des Schauspielers Marlon Brando und der amerikanischen Politikerin und Feministin Bella Abzug. Auf den Porträtaufnahmen befinden sich böse, zugleich aber auch vermeintlich passende Einzeiler, die erniedrigenden Selbstbeschreibungen gleichkommen. Der Paparazzo Ron Gallela, einer der Fotografen, die zur Etablierung der Sensationspresse beitrugen, kommt in der Arbeit Jackie & Me (1989) zu Wort, bei der sich Bacher unautorisierte Fotografien Gallelas, die mit selbstverliebten Bildunterschriften versehen sind, aneignet. Auf den Schnappschüssen ist eine dunkelhaarige, weibliche Gestalt zu sehen, die dem Blick der Kamera ausweicht. Ist es etwas Jacqueline „Jackie“ Kennedy, die dem aufsässigen Fotografen zu entfliehen versucht? Die Arbeit legt den Akt des Beobachtens auf verschiedenen Ebenen frei: Es ist nicht nur Gallela, der die weibliche Gestalt belauert, vielmehr ist es scheinbar auch der Paparazzo selbst, der von einem verdeckten Ermittler ins Visier genommen wird – und nicht zuletzt ist es der Betrachter, der in der Rezeption zum Beobachter wird.
Mit der Aneignung pornografischer Bilder des weiblichen Körpers nimmt Bacher eine traditionell männliche Position ein und wirft damit die Frage auf, was passiert, wenn eine Frau diese Betrachterposition einnimmt und warum dies oftmals tabuisiert wird. Die Arbeit Sex With Strangers (1986) zeigt explizite Darstellungen von Sexualakten – häufig ungeschönt und gewalttätig. Die Bildunterschriften der vergrösserten Fotokopien von Buchseiten eines Taschenbuches geben pseudo-soziologische Platitüden auf eine Art und Weise wieder, die einer wissenschaftlichen Untersuchung über Vergewaltigungen gleicht. Ein erotisches Sujet zeigen auch die Gemälde und Zeichnungen der Serie Playboy (1991–1994). Die in Auftrag gegebenen Werke basieren auf den sinnlichen, riesenbusigen und unbeschwert lächelnden Pin-Ups des Illustrators Antonio Vargas, die in den 1960er und 1970er Jahren im Playboy erschienen sind. Die weiblichen Akte sind dabei gepaart mit dezent-anzüglichen Aussagen wie zum Beispiel der Bemerkung einer nackten Blondine, die nur in einen schwarzen, transparenten Umhang gekleidet lasziv auf einem Stuhl sitzt: „Sure I’m for the feminist movement. In fact, I’m pretty good at it.“
Es sind aber nicht nur Bilder und Texte, die Lutz Bacher in ihr Werk aufnimmt, sie verwendet auch Fundstücke aus den Friedhöfen kollektiver Obsessionen, aus Brockenhäusern und den überquellenden Restpostenläden der Warenwelt. Den aufgespürten Objekten, die sich zwischen Readymade und objet trouvé bewegen, fügt die Künstlerin eine Art physischer oder psychischer Schäden zu, der die Ruinen unserer Identitäten, Rollenzuschreibungen, unserer kollektiven Verhaltensmuster und Begehren sowohl in konzeptuell stringenten wie in erzählerisch leichten und immer irreführenden Werken und Environments erfahrbar werden lässt. Big Glass (2008) zeigt einen zerbrochenen Spiegel – von Bacher als Readymade zweckentfremdet – dessen Titel als kunsthistorische Referenz auf Marcel Duchamps The Large Glass (1915–1923) verstanden werden kann. Der Blick des Betrachters auf das fragmentierte Spiegelbild seiner selbst, verweist auf Bachers Interesse für Fragmentarisches und Körperlichkeit – Aspekte, die in Arbeiten wie Arm (2009), ein lebensgrosser Abguss eines linken Armes, Bison (2012), ein nicht zu Ende gebautes Wildrind aus Theaterrequisiten, oder in den Fotografien Little People (2005), die Spielzeugtrolle aus Plastik porträtieren, wiederzufinden sind.
Die als Übersichtsausstellung angelegte Präsentation der Künstlerin in der Kunsthalle Zürich ist die letzte von drei sich in Format und Ansatz unterscheidenden Einzelausstellungen Bachers in Europa im Jahr 2013: Im Frühjahr präsentierte die Künstlerin Arbeiten im Portikus in Frankfurt am Main und im Spätsommer im Institute of Contemporary Arts in London. Zu den drei Ausstellungen erscheint zur Eröffnung der Ausstellung in Zürich ein gemeinsamer Katalog, der das Inventar ihres Œuvres in Form eines Künstlerbuches präsentiert.