Gabriel Sierra
Before Present
Fast pausenlos sind wir von Architektur umgeben, nehmen sie jedoch kaum wahr. Dabei beeinflusst sie massgeblich unser Denken und Tun, manchmal offensichtlich, meist aber unbewusst. Genau für diese psychische Dimension von Architektur interessiert sich der kolumbianische Künstler Gabriel Sierra. Er schlägt ein Experiment vor, mit dem sich die komplexe Beziehung zwischen Realität und Wahrnehmung untersuchen lässt. Denn gebaute Räume sind Ablagerungsorte für Vorstellungen, Ängste und Überzeugungen, sie sind voller Ambitionen, Spuren und zukünftiger Erlebnisse, und ihnen wohnt eine vielfach verschachtelte Zeit inne. Kaum ein Erlebnis beweist dies auf so eindrückliche Weise wie das Déjà-vu: Man erlebt einen Moment, als hätte man ihn schon einmal vor-erlebt. Während eines Déjà-vus verschmelzen Vergangenheit, Zukunft und Jetzt zu einer magischen Sekunde, die gleichsam euphorisiert und verstört. Diesem unergründlichen wie auch unheimlichen Before Present ist Sierras Ausstellung in der Kunsthalle Zürich gewidmet.
Um diesem Zustand nachzugehen, wiederholt der Künstler in den Räumlichkeiten dreimal die gleiche Ausstellung.
Am Anfang und am Ende der Ausstellungsräume hat der Künstler Lampen gesetzt; auf Augen- höhe begegnen sie den Besucherinnen und Besuchern und radieren die letzten Eindrücke auf der Retina aus, beim Eingang und erneut beim Ausgang der Ausstellung. Die Intensität des Lichts richtet sich nach der aktuellen Mondphase. Extra angefertigte Durchgänge bringen uns in drei verschieden Zeitzonen: Einmal geht die Zeit hinterher, einmal vor und einmal geht sie scheinbar richtig. Die Struktur erlaubt ein vielfältiges Erleben der Ausstellung; die Ausstellung kann als Konzept oder Idee verstanden werden, als Situation per-se, als physischer oder psychologischer Kontext. In den dafür umgebauten Räumen begegnen wir sich wiederholenden Gegenständen, die in den Wänden lagern, als ob sie von ihnen aufgesogen worden wären, wie eine Kombination von traditionellen Fenstern und Lüftungstunnels.
Dabei kommen kleine Unterschiede ins Spiel, denn die Realität ist, wie wir wissen, fehlerhaft – genau wie die Erinnerung. Sie täuscht uns und wir täuschen sie, aber wie beim Déjà-vu ist nicht immer klar, wer zuerst da war. Kommt Täuschung vor der Realität oder ist die Realität Grundlage jeder Täuschung? Hier beginnen sich die Gedanken im Kreis zu bewegen und für einen Moment scheint sich die Zeit aufzuheben. Die Verstörung dient jedoch nicht einfach der Täuschung. Sierras räumliche Anordnungen sind immer auch kritische Befragungen des Ortes, der Sprache der Architektur, ihrer Macht und ihres Mangels an Poesie.
Sierras Eingriffe mögen sparsam und einfach erscheinen, sind in ihrer Präzision jedoch beflügelt von einem Sinn für Hintersinn und Absurdität. In ihnen verbinden sich Poesie mit Klarsicht so wie im Déjà-vu Vergangenheit und Gegenwart zusammen fallen. Daraus ergibt sich eine Art magische Realität, die einem womöglich erst auf dem Weg nach Hause einholt. DB