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Elene Chantladze

As in a Melody or a Bird’s Nest

07.10.2023–28.01.2024

«თავისუფალი ხატვა» heisst übersetzt «Freies Zeichnen». Die georgische Künstlerin Elene Chantladze hat viele ihrer Arbeiten mit dieser Formulierung betitelt, teilweise als gemalter Schriftzug im Bild und als eine Bezeichnung ihrer Malweise. Schrift ist nicht selten Bildelement der Künstlerin, welche lange Zeit zunächst als Dichterin und Autorin gearbeitet hat. Signatur, Datierung oder Bildbeschreibung treten in den Bildern zum Teil ebenso in Erscheinung wie das dargestellte Figurenpersonal. Chantladze’s Begriff des freien Zeichnens charakterisiert ihren Zugang zum Medium exemplarisch, denn jede Linie, jeder Auftritt von Figuration und jede kompositorische Entscheidung generieren sich aus dem malerischen Prozess selbst. All ihre Werke entstehen auf und mit Material, das ihr unmittelbar zuhanden ist: Neben Farbstiften, Gouache und Kugelschreiber kommen auch Kaffee, der Saft einer zerdrückten Frucht oder Schmieröl zum Einsatz. Der Karton einer Pralinenschachtel, Kalenderblätter oder etwa die Rückwand eines Schrankes liefern Bildträger für die Malereien. Je nach Beschaffenheit orientiert sich Chantladze direkt an der gegebenen Struktur des Untergrunds oder kreiert mit schnellen Pinselzügen eine abstrakte malerische Textur, die ausschlaggebend für die Bildfindung ist. Somit erstellt sie sich zunächst eine suggestive Ebene ohne gegenständliche Absichten, die nicht unwesentlich auf Zufall vertraut und das kreative Handeln selbst – ohne kompositorisches Vorausplanen – in den Vordergrund rückt.

Otto Bonnen zur Ausstellung

Aufbauend auf diesem ersten Schritt stellt Chantladze ihr Bildprogramm heraus: In den Schlieren und abstrakten Gebilden des ziemlich zufällig entstandenen Hintergrunds beginnt sie Gesichter, Gestalten, Pflanzen und Landschaften zu assoziieren. Um ihre Visionen zu fixieren, übermalt sie einige Bereiche des Untergrunds, hebt bestimmte Formen hervor, ritzt dünne Striche in die nasse Farbe und arbeitet mit Kugelschreiber andere Silhouetten durch Umrisslinien heraus. Oftmals ist es eine letzte weisse Schicht entlang der Konturen, die das Bildgeschehen durch homogenere Flächen zwischen den Gestalten zusätzlich klärt.

Das Resultat sind konzentrierte Szenen, die zwischen Abstraktion und Figuration pendeln: Mal scheinen einzelne Figuren aus einem diffusen Hintergrund aufzutauchen, mal dominiert eine geschlossene Figurenansammlung das Bildformat und überdeckt die erste Malschicht vollkommen. Die Arbeiten setzen sich entweder aus weit gesperrten, geradezu isolierten Gestalten oder dicht besiedelten Bildflächen zusammen – teilweise so eng, dass die Figurengruppen wie ein Puzzle ineinandergreifen und ihre Kanten die Form der angrenzenden Gestalt bestimmen. Wie in Ikonenmalereien scheinen die Figuren auratisch und meist frontal im vagen aufgeklappten Bildraum zu schweben, der nur in einigen Fällen Landschaft oder Innenraum andeutet: Ein einzelner Tisch, Stuhl oder Fenster rückt eine Szene in einen häuslichen Kontext; Blumen, Wellen oder eine Gruppe aus drei Bäumen fungieren wie stilisierte Requisiten im ansonsten schemenhaften Setting, um die Handlung mit einer reduzierten Geste in die Natur zu versetzen. Eine ausgehöhlte Felsformation verortet eine andere Szene im Kloster Dawit Garedscha an der georgischen Grenze zu Aserbaidschan, rahmende Strukturen wie beispielsweise der Wagen im Bildnis კაცი რომელიც იცინის (The Man Who Laughs) (2019) weisen auf die Rolle von Gemeinschaft spendenden Architekturen hin. Hier und da findet sich ein Tier oder ein angedeutetes Gesicht in den Zwischenräumen der Bildelemente – weil es sich aus den Umrissen ergibt.

Wie auch ihr Material entstammen die Motive ihrer Arbeiten ihrem direkten Umfeld. Oftmals kommen sie aus einem familiären Zusammenhang, dem Dorfleben oder Folklore, einige Bilder verhandeln politische Vorfälle und historische Ereignisse in Georgien, andere zitieren Populärkultur und zeigen Roman-, Theater- und Filmfiguren. Wiederholt treten besonders weibliche Figuren in Erscheinung, mal als abgewandte Akteurinnen mit gesenkten Augen in trauriger Abgeschiedenheit, mal in inniger Beziehung zu anderen oder in zugeneigter Zärtlichkeit zu Kindern und Tieren, als Sehnsuchtsvorstellungen von liebevoller Gemeinsamkeit. Es sind stets Menschen oder Tiere, auf die Elene Chantladze ihre Aufmerksamkeit richtet – «nur irdene Wesen», wie sie selbst sagt – in all ihren vermeintlich profanen und doch komplexen Beziehungsgeflechten.

Mit ihrer Hingabe zu allem Kreatürlichen und ihrer malerischen Herangehensweise würde es sich anbieten, sie mit bestimmten Surrealist:innen und deren automatischen Maltechniken zu vergleichen. Doch trotz der scheinbaren Zufälligkeit ihrer Arbeiten ist das Bildprogramm von Chantladze nicht beliebig oder metaphysisch, sondern stark an die Realität und ihre persönliche Umwelt gebunden. Wenn man will, lassen sich überzeugende kunsthistorische Brücken in weitere Richtungen schlagen – von christlich-orthodoxer Ikonenmalerei über den georgischen Maler Niko Pirosmani bis zum sowjetischen Film. Zudem streift das verwendete Material kunsttheoretische Diskurse um Warendistribution, Werbeästhetik, aber auch Zugänglichkeit, Improvisation und Agency. Gesellschaftliches verhandelt sie wie Literarisches und Persönliches, so betrachtet sie den Einmarsch des russischen Militärs in Südossetien 2008 beispielsweise mit unbegreiflichem Entsetzen, aber auch mit dem gleichen poetischen Wirklichkeitssinn, den man in ihren Bildern zu tragischen Theaterstücken und in ihren Familienportraits spürt.

Ihre Arbeiten zeigen keine Strenge zum Medium, sind aber von einer Ernsthaftigkeit geprägt, die sich besonders durch die Kontinuität ihres Werks bemerkbar macht: In der gesamten Zeitspanne ihres Schaffens gibt es keine Stilsuche oder Findungsphasen. Es ist diese Sicherheit in der Bildfindung – Chantladze’s Vertrauen in den malerischen Prozess und in ihre unmittelbaren Einflüsse –, welche sich in all ihren Bildern bemerkbar macht; Bilder von einem Leben mit der Kunst weit weg von den grossen Zentren, aber in einer engen Verbundenheit zum Jetzt. In der Kunsthalle Zürich werden ihre Werke zum ersten Mal als institutionelle Einzelausstellung gezeigt.

Kuratiert von Otto Bonnen, Assistenzkurator Kunsthalle Zürich

Hier können Sie einen Ausstellungsrundgang mit Otto Bonnen zuhören.

Die Ausstellung wurde mit grosszügiger Unterstützung von Jakob Schlaepfer realisiert. Mit besonderem Dank an Luca Beeler, Kathrin Bentele, Cato Bonnen, Emilie Fischer, Kristina Ivanova, Nika Lelashvili, August Modersohn, Lisa Offermann, Elene Pasuri, Niclas Riepshoff, Nino Sekhniashvili, Carmen Tobler, Alison Yip und die Leihgeber:innen.

Elene Chantladze (*1946, Supsa, Georgien) lebt und arbeitet in Tskaltubo, Georgien. Zu ihren jüngsten Einzelausstellungen gehören M HKA, Antwerpen (2023); Fierman, New York (2022); Modern Art, London (2021); LC Queisser, Tiflis (2020); Gallery Nectar, Tiflis (2018). Ihre Arbeiten wurden in Gruppenausstellungen bei LC Queisser, Tiflis (2023); Ermes Ermes, Rom (2022); Lismore Castle Arts (2022); Croy Nielsen, Wien (2022); ADZ Gallery, Lissabon (2021); Conceptual Fine Arts, Mailand (2021); Gallery Nectar, Tiflis (2015); Ausstellungsraum Klingental, Basel (2015) ausgestellt.

Presseinformationen

Für Bildanfragen, Informationen zum Ausstellungsprogramm und Interviews kontaktieren Sie bitte Aoife Rosenmeyer: presse [​at​] kunsthallezurich.ch oder +41 (0)44 272 15 15