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Helen Marten

Almost the exact shape of Florida

01.09.–04.11.2012

Zur Wiedereröffnung der Kunsthalle Zürich im Löwenbräukunst-Areal zeigen wir als zweite Einzelausstellung in den renovierten und umstrukturierten angestammten Räumen der Kunsthalle Zürich die erste institutionelle Präsentation der britischen Künstlerin Helen Marten (geb. 1985 in Macclesfield, lebt und arbeitet in London). Für «Almost the exact shape of Florida» schuf Marten eine neue Gruppe von Arbeiten, die die mediale Breite ihres Schaffens von Skulpturen über Wand- und Bodenarbeiten in eine umfassende Installation verweben.

Indem sie reale Oberflächen mit linguistischen Szenarien kombiniert, rührt Marten auf humorvolle Weise an Fragen des Eigentums und der Unehrlichkeit von Materialien, an der Beziehung zwischen Objekt und Artefakt sowie zwischen Verpackung und Produkt. Dank ihres Interesses an grammatikalischen Annäherungen, die in der handwerklichen Herstellung vorgenommen werden, entspinnen sich in Martens Ausstellung unaufhörlich Konversationen zwischen Nachahmung und Camouflage. Die Idee des Nachzeichnens der Umrisse von Materie – des Verweisens auf erkennbare Informationen mittels einer verzerrten Form – verleiht dem Wackligen, dem Betrunkenen und dem Schiefen Autorität. Das Bild stolpert unaufhörlich über die Sprache und über eine Vorsätzlichkeit im Hinblick auf Irrtümer, die sich mit der ganzen konkreten Bestimmtheit kultureller Wiedererkennbarkeit in Pose wirft. Sämtliche eingängigen Aspekte des Ausstellungsraums – Wände, Fussboden, Zirkulation, Beigeschmack – werden mit derselben Rücksichtnahme behandelt, wobei der Schwerpunkt auf die Überlegung gelegt wurde, dass sich in der Beförderungsgeschwindigkeit eines Objektes unterschiedlichste formale Beziehungen von zentraler Bedeutung offenbaren können.

In Geologic amounts of sober time (2012) zeigen vier grossformatige, mit Siebdrucken versehene Tafeln aus Leder grafisch-flächige Mozart-Bildnisse. Der das Porträt umgebende Bildraum ist in unmittelbarer Weise häuslich und kanonisiert – es ist eine stolze Umgebung: ein Chippendale-Stuhl, ein Windsor-Stuhl, ein Bettgestell aus dem 18. Jahrhundert, ein monochromer Fussboden und Horizont. Keinem Bestandteil der Szene wird gestattet, sich auszudehnen; alle Teile ziehen sich bis zum Rand des Rahmens oder verschwinden hinter dem das Bild beherrschenden Gesicht. Hemdkragen, Haaransatz und Augenbrauen sind auf ein ungebührliches Mass aufgeblasen, wobei zu dieser eigensinnigen Flachheit noch eine optische Missachtung gegenüber jedem Volumen kommt. Die Haare stehen nicht ab, die Augen glänzen nicht, und der Stoff wirft keine Falten. Das Bild ist ein stenografisches Sinnbild der Kultur, eines abstrakten Wunderkindes, im Sinne eines Charakters jedoch ist es versteinert, geologisch, nüchtern. Und doch baumeln von den Rahmen, in denen diese Siebdrucke ruhen, Schnapsflaschen herab, die das Bild mit Handlung tränken und gleichzeitig alles durch die Möglichkeit zunichte machen, in einer Pfütze aus einer alkoholischen Flüssigkeit auszurutschen. Es herrscht ein ständiges Hin und Her zwischen Bedienungsanleitung und sensorischer Katastrophe; die Konturen sind zwar klar, schwarz, deutlich, aber sie könnten jeden Moment betrunken aus dem Bild herauslaufen. Der Akt des Siebdruckens verbindet sich mit der Sprache der Verpackungsherstellung. Von der Art, wie man Obstkisten bedruckt, bis zu den Tintenlinien, die auf einen Bierdeckel geschrieben werden: Die Frische des getrockneten Tintenstrichs impliziert stets Autorität und eine endgültige Bestimmung. Doch ebenso wie den alkoholischen Andeutungen der herabhängenden Flaschen wird sämtlichen Materialien wie auch dem Ballast der Worthaftigkeit (den Anagrammen und Metaphern) die Freiheit gewährt, sich auszubreiten.

In ihren Arbeiten hantiert die Künstlerin ungezwungen mit Realitätscodes, Bildsprachen und deren Überspitzung, so dass herkömmlich bescheidenen und oftmals übersehenen Gegenständen eine neue Symbolik und Grösse verliehen wird: das Kohlenhydrat, Teigwaren, Verpackungen oder der Gehsteig, sie alle werden neu zum Gegenstand sorgfältiger Untersuchungen. Dem Unheimlichen wird etwas Familiäres verliehen und ungekehrt; wo sich Fehler finden, werden diese verfeinert; Modelle und Erwartungen werden entblösst oder mit neuen Bedeutungsebenen versehen; die Dinge sind zu gross, zu flach, zu lethargisch. Es ist eine Komödie, jedoch demoliert, analysiert und zutiefst ernst. More handles than fingers to count on (2012) ist ein Keramikgefäss, das mit zahlreichen, viel zu kleinen, cartoonhaften Henkeln versehen ist, einer Ahornsirupflasche gleich. In vielen verschiedenen Typographien zieht sich der Schriftzug „LAUDER“ in Königsblau über die fade hellbeige lasierte Oberfläche. Der Verweis auf die gleichnamige Kosmetikmarke ist offensichtlich. Es ist gleichzeitig aber auch ein falsch geschriebener und ausgesprochener Befehl – eine Anweisung, die Lautstärke aufzudrehen, lauter zu werden, vorsätzlich zu viel und zu viele zu bringen. Es geht hierbei um die Idee, einen Fehler oder Mangel durch Übersättigung zu verdecken – ihn also in derselben Weise zu übertönen oder zu verschleiern wie ein auf einer unvollkommenen Unterlage aufgetragenes Make-up den Anschein der Glattheit erweckt. Der grob beschnittene und fleckige Stoff unterhalb des Gefässes verhält sich wie sein stummmassiver Schatten, aber im Gegensatz zur Bedeutung der Glasur sind die Spuren der Herstellung hier auf offenkundigere Weise handgemacht und grob zusammengefügt. Diese Flickwerk vermittelt eine zwanglose Beiläufigkeit, eine einfache Grundierung, und ermöglicht ausserdem einen zweiten Schritt, der die Aufladung und Entleerung von Codes mittels einer Demontage des klassischen Kunst-Sockels umfasst. Zudem klafft in der Glasur im unteren Bereich des Keramikgefässes eine mundartige, längliche Öffnung: es handelt sich um ein Loch ohne jede Funktion, nicht um ein Bedeutungsangebot. Der Betrachter ist vielmehr aufgefordert, eine Hand ins Innere des Gefässes zu stecken und die Dichte des Raums zu überprüfen – um möglicherweise dabei einen Finger einzubüssen oder auf eine unbekannte Substanz zu stossen. Wie bei einem Grossteil der in der vorliegenden Ausstellung präsentierten Arbeiten herrscht auf der Oberfläche eine Spannung, ein hitziges erotisches Spiel, dessen elektrisierende Kräfte sich einem Fehlen oder einem Übermass verdanken: aufgeblähte Brezeln, pralle Kissenbezüge, herabhängende Bronze-Eingeweide, dichte Bündel von Zündhölzern, Schnittreste und Überbleibsel. Raue Oberflächen treffen unvermittelt auf Hochglanzpolitur, eine flache Trockentapete dient als Träger öliger Andeutungen, während Blankgeputztes und Statikfreies dazu gezwungen werden, miteinander zu reagieren.

Dem real Physischen und dem Handwerk misst Marten in ihren Arbeiten eine zentrale Bedeutung zu. In der Wahl der Werkstoffe geht sie den Fragen nach, wie Erwartungen in die Sprache des Materials umgesetzt werden können: wie kann man Material verwenden, um es in einer Erzählung spezifisch zu verorten; welche Charakteristiken und bereits festgelegte Assoziationen haften ihm an. Sie wählt alltägliche Werkstoffe aus dem „Warenhaus“ der Gegenwart – Metall, Pressspanholz, Türgriffe, Wasserflaschen, Lehm oder Knochen von Hühnern – und verdreht deren zugedachten Rollen. Die Idee der künstlerischen Berührung (oder gerade eben nicht) ist in jeder Arbeit sichtbar: tröpfelnder Leim, improvisierte Verbindungen und bröckelnde Fugen erscheinen neben perfekten Ecken oder offensichtlich mechanisierten Arbeitsprozessen. Stein und Metall können eine humorvolle Leichtigkeit oder schüchterne Schwäche erhalten, währenddem eine rau bearbeitete, unter grosser Hitze geschweisste Oberfläche durch die zusätzliche Behandlung von Pulverbeschichtung wieder manierlich aussieht.

Die Titel, mit denen die Künstlerin ihre Arbeiten versieht, sind von Wortwitz durchsetzt. Hot Frost (Blueberry / Lime Ice / Glacier Ice) (2012) spielt mit dem Paradaxon vom „heissem Frost“, aber auch mit dem Label, „heiss“ oder „hip“ zu sein, und der Temperaturkollision zwischen der Geschwindigkeit der Herstellung und dem Verzehr. Es sind drei Silhouetten von Männern im Profil, gefertigt aus Corian, einem schweren und modischen Küchenbaumaterial. Eingefärbt in die leicht frostigen Farben Hellblau, helles Lindgrün und kaltes Weiss, trägt der eine einen Hut, der andere eine Brille und der dritte einen Bart. Ihre Stirnpartien werden zu Bergumrissen mit verschneiten Bergspitzen, während die überdimensionierten, aufgrund ihrer Materialität an Schnee oder Eis erinnernden Köpfe von der Hitze von Zündhölzern, die gebündelt auf der Oberfläche kleben, zu wanken und schmelzen drohen. Dieser absurden Erweiterung der Köpfe in angeschwollene Bergspitzen haftet etwas Erotisches an. Sie werden zu einem bildhaften Vorschlag für Verlangen und lassen die körperliche Anschwellung zu einem statischen, slapstickartigen Vorgang von Schmelzen und Einfrieren werden.

Die umfangreiche Werkgruppe, welche für die Ausstellung in der Kunsthalle Zürich entstand, zeichnet sich dadurch aus, dass Sprache dazu gebracht wird, sich auf die Umrisse einer wiedererkennbaren Form zu beziehen. Das Schweigende (engl. muted) und das Wandelbare (engl. mutable) verfügen über ein gleichermassen exotisches Potenzial, wobei durch Helen Martens Schnelligkeit des Ausdrucks und der Vermittlung ein Raum entsteht, in dem man sogar einer Erdnuss unterstellen kann, beinahe dieselben Umrisse wie Florida zu besitzen.