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Interview mit Marianna Simnett - Akademie - Kunsthalle Zürich
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Interview mit Marianna Simnett

Vor der Eröffnung von der Ausstellung Marianna Simnett: LAB RATS an der Kunsthalle Zürich, haben Simnett und Kunsthalle Director Daniel Baumann die gezeigten Arbeiten besprochen.

Daniel Baumann: Blood In My Milk ist ein Film, der aus vier separaten Filmen hervorgegangen ist, nämlich aus The Udder (2014), Blood (2015), Blue Roses (2015) und Worst Gift (2017). Bevor wir über Blood In My Milk sprechen, kannst du mir sagen, was dich von einem Film zum nächsten geführt hat?

Marianna Simnett: Das war ein recht wildes Unternehmen. In The Udder, dem ersten Film der Serie, weise ich das Kuheuter als Nase, Phallus und Zitze aus, als sowohl männlich wie weiblich, biologisch und technologisch. Filmbearbeitung und Montage entwickeln sich analog zum Aufschneiden der Zitze, beziehungsweise zum Abschneiden der Nase des Kindes.

Es ist eine Geschichte von Infektion und Verunreinigung. Ich war wie besessen von Heiligen und Märtyrern, sich selbst verstümmelnden Frauen, die im Namen der Tugend Teile ihrer Körper abschnitten. Als Filmemacherin war es für mich interessant, den brutalen, grausamen Schnitt an einem Körper mit den technischen Mitteln wie dem Filmschnitt in Verbindung zu bringen. Zudem war ich fasziniert von Freuds Fallstudie über Emma Eckstein, die schwere Blutungen erlitt und daran fast gestorben wäre.

DB: Kannst du die Eckstein-Geschichte kurz ausführen?

MS: Wilhelm Fliess war ein Hals-Nasen-Ohren Arzt und ein Freund von Sigmund Freud. Es gibt einen Briefwechsel zwischen den beiden, eine Art homoerotische Korrespondenz [The Complete Letters of Sigmund Freud to Wilhelm Fliess, 1887–1904]. Jedoch existiert nur die eine Hälfte, also von Freud an Fliess, aber man kann sich die andere Hälfte ja vorstellen. Alles sehr romantisch!

Fliess hatte diese wilde Theorie, dass man Patientinnen die untere Nasenmuschel, also einen Teil der Nasenhöhle, herausschneiden könnte, um sie so von Symptomen wie Menstruationsbeschwerden, Magenkrämpfen, Kopfweh und Masturbation zu befreien. Er nahm diese Operation an verschiedenen Patientinnen vor. Mit Emma ging es katastrophal daneben, denn man vergass die Mullkompressen zu entfernen. Eine Krankenschwester entdeckte sie und zog sie heraus, gefolgt von einem Blutschwall. Emma erlitt eine Nekrose, ihr Gesicht verrottete von innen und war dauerhaft entstellt.

DB: Wegen dieser Operation?

MS: Ja. Und dann gibt es noch eine andere Geschichte über das Abschneiden der Nase. Als die heilige Jungfrau und Märtyrerin Ebba, deren Nonnenkloster von den Wikingern angegriffen wurde, befürchtete, vergewaltigt zu werden, schnitt sie sich Nase und Oberlippe ab. Sie drängte die anderen Schwestern dazu, dasselbe zu tun. Damit wollten sie ihre Tugend retten, weil zu hässlich, um von den Männern vergewaltigt zu werden. Als die Wikinger anrückten, waren sie so wütend, dass sie zur Bestrafung die Frauen mitsamt dem Kloster verbrannten.

DB: Dafür, dass sie hässlich waren.

MS: Dafür, dass sie ihnen ihren Plan versaut hatten. Nachdem ich The Udder und Blood fertig gestellt habe, kam der nächste Schritt hin zu den Venen, mit Blue Roses. Als Kind habe ich die blau hervortretenden Venen an den Beinen meiner Mutter angestarrt. Ich war noch ganz klein und sagte zu ihr: «Schau mal, all deine blauen Rosen!» Da wurde sie wütend, aber ich wollte sie nicht beleidigen, für mich sahen ihre Adern einfach aus wie blaue Rosen.

Für The Udder haben wir das Euter in einer Veterinärschule, wo sie Tiere sezieren, aufgeschnitten. Da gab’s auch Schafe, Strausse, Elefanten und der Veterinär sagte zu mir: «Nebenan haben wir Kakerlaken auf Tretmühlen!» Sein Büro war voll von Zyklopen, Kühe, die wie Fussbäl- le aussahen, ohne Augen oder Ohren, mit Zähnen, die aus Fellen heraus wuchsen, total wahn- sinnige Klumpen und verschmolzene Gliedmassen. Es war eine Goldgrube! Ich habe das alles aufgesogen.

Ein paar Jahre später habe ich den Veterinär wegen der Kakerlaken angerufen. «Oh nein, die sind jetzt in Amerika.» Ich fand einen Zeitungsausschnitt und habe Dr. Hong Liang entdeckt, die Erfinderin der Cyborg-Kakerlake. Sie arbeitet an der Texas A&M University mit einer Gruppe von Doktoranden, die ich dann in meinen Film verwickelt habe. Die Universität befindet sich in der Nähe von Disaster City. Es sind 52 Hektar Land, die ausschliesslich der Rekonstruktion und Simulation von Katastrophen gewidmet sind, mit Erdbeben, eingestürzten Gebäuden, radioaktiven Lecks, Bränden, was immer man sich vorstellen kann. Das Ganze ähnelt einer Miniaturstadt.

DB: Wie Disneyland.

MS: Ein Disneyland für Katastrophen. Es ist verrückt. Sie erhoffen sich, die Kakerlaken in Katastrophengebiete zu schicken, weil sie in kleinste Räume krabbeln können, um Menschen zu helfen. Den Kakerlaken werden Elektroden implantiert, um sie nach links oder rechts zu bewegen. Wir wissen ja schon, wie robust Kakerlaken sind und dass sie die Menschheit überleben werden. Man hat herausgefunden, dass die Cronenberg-Hybride – der ultimative Terminator – besser als Computer sind. Die Kakerlaken haben so viel Kraft, es gilt nun, diese weiter zu steigern.

DB: Wie ist es dir gelungen, alle diese Leute zum Singen zu bringen? Sind alle Leute, die in dieser Szene singen, Wissenschaftler?

MS: Sie verbringen ihr Leben in einem Keller mit Millionen von Kakerlaken. Sie waren scheu, aber wollten das wirklich machen. Hongs Stimme ist kratzig, aber absolut schön. Der Charme des Films liegt in diesen amateurhaften, verletzlichen Auftritten.

DB: Und dann folgte Worst Gift?

MS: Noch vor Worst Gift habe ich The Needle and the Larynx und Faint with Light gemacht. In Worst Gift habe ich mich für Botox interessiert als eine Substanz, die wir einnehmen, also ein unsichtbares Bakterium, ein Pharmakon mit tödlichen, aber auch heilenden Eigenschaften. Zwischen Blue Roses und Worst Gift liegen zwei Jahre, und die Welt hatte sich verändert. Es ging jetzt weniger um den Versuch, Identität zu konstruieren, sondern mehr um das, was in unsere Körper eindringt und ob wir uns überhaupt als völlig menschlich bezeichnen können.

DB: Die vier oben beschriebenen Filme standen je für sich alleine. Was hat dich dazu bewegt, sie in Blood In My Milk zusammen zu bringen?

MS: Das New Museum in New York lud mich ein, eine Ausstellung zu machen, ich wollte aber keine langweilige Mini-Retrospektive zeigen. Ich lief mit einem Freund, dem Schriftsteller Charlie Fox, die Strasse runter und mir wurde fast schlecht, weil mir plötzlich klar wurde, was ich zu tun hatte: ein episches Universum. Zusammen bilden die vier Filme in Blood In My Milk eine riesige, infizierte Erzählung. Das Blut, die Milch, die Venen, das Botox. Der Chirurg, der seine Handschuhe anzieht. Und die Charaktere, die von einem Film in den nächsten überspringen.

DB: Wie bist du das Ganze angegangen?

MS: Die einzelnen Erzählungen sind bereits unzusammenhängend, assoziativ. Es gibt multiple Welten innerhalb der gleichen Geschichte. Wir springen vom Dokumentarischen zum Fiktiven ...

DB: ... von innen nach aussen ...

MS: ... und ich wollte eine abgekapselte Atmosphäre schaffen, die auf überwältigende Weise mit Bildern gesättigt ist, so dass es unmöglich ist, alles auf einmal zu sehen. In Blood In My Milk zeige ich alles, gleichzeitig aber kannst du nie alles sehen.

DB: Wie bei einem Double Bind?

MS: Es ist eine Reflexion darüber, wie wir die Welt überhaupt sehen und auf welche Perspekti- ven wir uns konzentrieren und welche wir ignorieren. Es gibt Momente, in denen alle Charaktere im Einklang singen. Dann herrscht im Raum völlige Kohäsion. Dieses Ganze fällt jedoch immer wieder auseinander und kommt dann erneut zusammen.

DB: Im Vergleich zu den einzelnen Filmen scheint sich Blood In My Milk stärker in Richtung Abstraktion zu bewegen. Sowohl auf erzählerischer wie auch auf visueller Ebene.

MS: Ja, ich wollte nicht, dass die Leute lineare Filme durchstehen müssen, einen nach dem anderen. Ich wollte, dass ein Raum entsteht, in dem sie sich ängstigen oder entspannen können.

DB: Welche Rolle spielt dann das Singen?

MS: Das Singen, die Musik, an der ich mit Lucinda Chua gearbeitet habe, ist ein Moment der Übereinstimmung in einer ansonsten fragmentierten Welt. Manches davon ist sehr traurig, wie ein Lamento. Es ist auch eine Erholung vom Horror. Musik ist ein Infekt, sie bleibt dir im Kopf hängen und du singst sie abends auf dem Nachhauseweg. Du wirst dich dabei ertappen, wie du über Mastitis singst. Grossartig.

DB: Blood In My Milk bewegt sich zwischen Märchen, Dokumentarfilm, Musical und Albtraum, er behandelt gesellschaftliche Themen und auch solche wie Kontrolle, Flucht und Beherr- schung. Die Arbeit durchläuft somit verschiedene Genres und Themen, gleichzeitig konstruiert der Film Stück für Stück einen Körper. Es fängt mit einer Brust an, auch einem Penis, von dort aus geht es zur Stimme und den Händen des Kuhhirten, dann zum Auge, zur Nase, zum Bein und voilà, schon hat man einen ganzen Körper.

MS: Ja. Deswegen musste ich dann aufhören.

DB: Was meinst du?

MS: Naja, ich hatte den Körper fertig gestellt.

DB: Aber du hörst nicht mit dem Bein auf. Sobald du den Körper hattest, machst du dich an die Maschine. Am Schluss geht die Protagonistin in diese Fabrik, sie ist wie eine James-Bond-Agentin, aber mit funkelnden Ballerinas.

MS: Am Anfang des Filmes schneidet sich die weibliche Hauptdarstellerin die Nase weg, während sie auf einem Bett liegt. Am Ende erlangt sie Handlungsmacht.

DB: Während Blood In My Milk eine komplexe und chaotische Geschichte darüber ist, was uns menschlich oder unmenschlich macht, funktioniert Faint with Light, die zweite Arbeit in deiner Ausstellung, ziemlich genau umgekehrt. Sie besteht aus nur wenigen Elementen, die entweder miteinander oder gegeneinander arbeiten: Atem, die Hyperventilation, Ohnmacht und Licht.

MS: Ohnmacht dreht sich um eine Abwesenheit des Selbsts und das erfordert eine Abwesen- heit von Bildern. Du kannst Ohnmacht zeigen, aber dann...

DB: ... wird es zur Illustration.

MS: Oder ich wiederhole das fragwürdige Bild der hysterischen, in Ohnmacht fallenden Frau. Ich wollte mich nicht als fallende Blume darstellen.

DB: Blood In My Milk ist eine Erzählung, die kurz davor steht auseinanderzufallen. Sie wird durch Form gerade noch zusammengehalten.

MS: Was wäre sie ohne Form?

DB: Chaos. Genauso mit Faint with Light. Fällt man in Ohnmacht, verliert man sich und fällt auseinander.

MS: Aber nach der Ohnmacht komme ich zurück, belebe mich von Neuem, reanimiere ich mich.

DB: In der Ohnmacht wird man sich selbst und löst sich auf. Was, wenn Ohnmacht das Ergebnis von zu viel Selbst ist? Wenn du überwältigt und ohnmächtig wirst, dann deshalb, weil dir alles zu viel ist und du überfordert bist. Du steigst aus und gelangst gerade in dem Moment paradoxerweise zu deinem ganzes Selbst, es sei denn ...

MS: ... du kommst nicht mehr zurück.

Alle Bilder Stills von Marianna Simnett, Blood in My Milk, 2018, 1. Courtesy die Künstlerin und Comar, 2. & 3. Courtesy die Künstlerin und Matt's Gallery